Neujahrsblatt der NGZH Nr. 81 auf das Jahr 1879; 23 S. mit 1 Tafel. (Format des Hefts: 20.6 x 26.3 cm)
Ueber Farbenschutz in der Thierwelt
von  Dr. Conrad Keller
UmschlagsKopf1879
herausgegeben von der

Naturforschenden Gesellschaft
 
 

auf das Jahr 1879.
 
 

LXXXI.
 
 
 

Druck von Zürcher & Furrer in Zürich
 

 

German only

 
 

Inhalt: 
Einleitung 3
Farbenwechsel 5
Chamäleon, Eidechsen, Nattern, Blindschleichen, 
Laubfrosch, Grasfrosch, Bufo viridis, Bachforelle, Steinbutt
Sympathische Färbungen 11
Glasthiere 14
Zooplankton
Mimicry 16
Schlusswort 21
 
Vielleicht ist niemals ein in Beziehung auf die Resultate so fruchtbringendes Prinzip ausgesprochen worden als dasjenige, dass keine der bestimmten Thatsachen der organischen Natur, kein spezielles Organ, keine characteristische Form oder Zeichnung  keine Eigenthümlichkeit des Instincts oder der Gewohnheit, keine Beziehung zwischen Arten oder Gruppen von Arten - existiren können, als solche, welche entweder jetzt oder einstmals für die Individuen, welche sie besitzen, nützlich gewesen sind.
Alfred Russel Wallace, Essais.
 


 
Phyllium, Mantis, Phasme, Coccon austral. Bombycide
Erklärung der Tafel.
Fig. 1.  Ein  «wandelndes Blatt» (Phyllium), der Gruppe der Heuschrecken angehörig.  Die Beinpaare und das Abdomen sind blattartig verbreitert.  Die Flügel, welche in der Ruhe dem Hinterleib flach anfliegen, ahmen bis in die Einzelheiten ein Blatt nach. Das Flügelgeäder imitirt Mittelrippe, Seitenrippen und die feinem Blattnerven.

Fig. 2.  Betheuschrecke (Mantis) aus Ceylon.  Am kegelförmigen Kopf stehen zwei zarte Fühler. Hinter demselben folgt der erste Brustring, der hinten stengelartig ausgezogen, vorn nach Art einer Flügelfrucht verbreitert ist.  Die Flügel stellen Blätter mit ungleichen Blatthälften vor und die Oberschenkel ahmen eine gestielte und geflügelte Frucht nach.

Fig. 3.  Eine Gespenstheuschrecke oder Phasma.

Fig. 4.  Cocon einer australischen Bombycide in a ganz und ein wenig mehr als natürliche Grösse, in b eröffnet, um die im Innern liegende Puppe zu zeigen.
Der Cocon zeigt eine getreue Nachahmung einer Orchideenfrucht mit Stiel, unterständigen sechsrippigen Fruchtknoten und dem eingetrockneten Perigon an der Spitze.
 

Originalgrösse: 16.8 x 21.3 cm 
C.Keller, nach der Natur gez.       J.J.Hofer lith. Zürich

... aus dem Kapitel Mimikry
In andern Fällen von schützender Mimicry werden leblose Gegenstände oft mit überraschender Treue nachgeahmt. Hier stehen die heuschreckenartigen Insecten geradezu oben an. Auf unserer Tafel stellt Fig. 1 einen solchen Fall dar, für den der wissenschaftliche Name Phyllium oder «wandelndes Blatt» gewiss sehr gerechtfertigt ist. Beine und Abdomen der seltsamen Heuschrecke sind blattartig verbreitert und die am Innenrand verdickten breiten Flügel stellen in ihrer Ruhelage bis in alle Details ein Blatt, mit Mittelrippe und Seitenrippen vor.  Das Flügelgeäder verhält sich ganz wie die Nervatur des Blattes und bei ruhigem Sitzen muss die Täuschung eine vollendete sein. Einen noch verwickelteren Fall haben wir in Fig. 2 bei einer aus Ceylon stammenden Betheuschrecke oder Mantis.  Hinter dem mit zarten Fühlern versehenen Kopf folgt der erste Brustring, stengelartig, und vorn nach Art einer Flügelfrucht verbreitert.  Die Flügel stellen je ein Blatt mit ungleichen Blatthälften vor und die Oberschenkel der Beine sind nach Art einer geflügelten und gestielten Frucht an den Enden verbreitert, also an einem und demselben Thier werden zu gleicher Zeit Stengel, Blätter und Früchte nachgeahmt.  Da die Mantiden arge Raubthiere sind, welche in sitzender Stellung regungslos das Herannahen der arglosen Beute abwarten, so muss diese Art in ihrer raffinirten Verkleidung fast unkenntlich sein.  Nähert sich eine Fliege oder eine Heuschrecke, so wird mit den hinter, dem Kopf stehenden Greifbeinen zu einem raschen Hieb ausgeholt und an ein Entrinnen ist nicht zu denken, da der Unterschenkel taschenmesserartig gegen den Oberschenkel eingeschlagen wird und beide mit spitzen Zähnen besetzt sind.
Eine sonderbare Form aus Australien, eine sogenannte Gespenstheuschrecke oder Phasma ist in Fig. 3 in natürlicher Grösse abgebildet.  Das Thier sieht aus wie die leibhaftige Theuerung und erweckt mit seiner spindeldürren Gestalt beinahe das menschliche Mitleid, denn hier geht die Schlankheit der Gestalt nachgerade bis an die Grenze des Verwegenen, aber die Thiere mit ihrem stabförmigen Körper und den fast linearen Beinen befinden sich insofern recht gut dabei, als sie der grossen Aehnlichkeit mit den Zweigen und umgebenden Halmen wegen äusserst schwer bemerkt werden.
Wie die Insectenclasse überhaupt reich an solchen Erscheinungen ist, so findet sich oft auch im Verlaufe der individuellen Entwicklung ächte Mimicry nach leblosen Gegenständen als schützende Ausrüstung.  Wenn man bedenkt, dass im Insectenleben die Metamorphosen bis zum entwickelten Imago sich über einen verhältnissmässig langen Zeitraum erstrecken, so ist dies völlig erklärlich.  Während der Entwicklung sind doch gerade Raupen und Puppen den Insectenfressern in besonderm Maasse ausgesetzt. Fälle von sympathischer Färbung finden sich in Folge dessen sehr häufig und unsere Spannerraupen wissen den Beobachter in ganz eigener Weise zu täuschen. Nicht genug, dass oft eine schützende Rindenfarbe ihre Entdeckung erschwert, sondern sie stützen sich auf ihre hintersten Beine und strecken sich in gerader Richtung, unter einem gewissen Winkel von ihrem Zweige abstehend.  Indem sie längere Zeit in dieser Position zu verharren im Stande sind, täuschen sie ein abgebrochenes Zweigstück vor.
Als ruhende Puppe ist das Insect am wenigsten im Falle, sich gegen seine Feinde etwa vertheidigen zu können; wir finden daher in der Abtheilung der Bombyciden oder Spinner eine schützende Hülle, einen Cocon, welchen die Raupe vor dem Einpuppen anfertigt. Aber dennoch gewährt dieser Cocon nicht immer ausreichenden Schutz gegen Insectenfeinde.  Es muss dies, auch wenn eine directe Beobachtung gar nicht vorläge, schon aus dem Umstande erschlossen werden, dass diese gesponnene Hülle ungeniessbare oder leblose Gegenstände auf's Frappanteste nachahmt.
So verdanke ich meinem verstorbenen Freunde Professor Rietmann eine Serie von Cocons, welche derselbe auf seinen naturhistorischen Reisen in Südaustralien gesammelt hat und worin ganz merkwürdige Beispiele von Nachäffungen vorkommen.  Grosse, flaschenförmige Cocons enthalten, um nicht beachtet zu werden, Stengel- oder Rindenstücke in die Oberfläche eingewoben. Andere gehören einer grossen Saturnidenart an.  Ihre Raupen spinnen sich auf dem Boden ein und die fertigen Cocons gleichen auf's Täuschendste den Excrementen eines grossen Känguruhs.  Nussartige Früchte und solche von Liliaceen sind ziemlich gut copirt. Der grossartigste Fall betrifft aber den Cocon, welcher auf der Tafel in Fig. 4 wiedergegeben ist. Man glaubt einen Fruchtstiel und einen unterständigen Fruchtknoten mit sechs erhabenen Längsrippen vor sich zu haben.  An der Spitze erkennt man sogar die vertrockneten Blüthenhüllen.  Die nachgeahmte Frucht liess sich in der reichhaltigen carpologischen Sammlung des zürcherischen botanischen Gartens mit aller Bestimmtheit als eine Orchideenfrucht erkennen.  Diese ist aber für einen Insectenfresser ungeniessbar und die Raupe spinnt sich an Orchideenbüschen wahrscheinlich zu einer Zeit ein, wo reife Früchte bereits vorhanden sind und erfährt dadurch einen wirksamen Schutz.  Wie gelungen die Nachahmung ist, bewies mir ein Zufall, indem der oben genannte Reisende und Naturforscher in Folge einer Täuschung ein Exemplar einer wirklichen Frucht als Cocon in die Sammlung aufgenommen hatte.
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