Neujahrsblatt der NGZH Nr. 85 auf das Jahr 1883; 41 S. mit 1 Tafel. und 1 Tabelle (Format des Hefts: 20.6 x 25.9 cm)
Die Flora der Eiszeit
von Dr. Carl Schröter
UmschlagsKopf1887
herausgegeben von der

Naturforschenden Gesellschaft
 
 

auf das Jahr 1883.
 
 

LXXXV
 
 
 

Druck von Zürcher & Furrer in Zürich
 

 

German only

 
 

Inhalt:
Einleitung
I. Die Oberfläche unseres Landes während der Glacialperiode 5
II. Die Vegetation der Eiszeit 10
1. Pflanzenreste aus Ablagerungen der Eiszeit 11
A. Interglaziale Flora 12
B. Glaziale Flora 17
2. Indirecte Beweise für die Existenz einer arctisch-alpinen Flora im Tiefland während der Eiszeit 34
Schlusswort 40
 

Einleitung
Wer in der zweiten Hälfte des Juni unsern vielbesuchten Uetliberg, Eisenbahn und sogar Fussweg verschmähend, auf einem der zahlreichen Gräte erklimmt, der kann, wenn Zufall oder kundige Führung ihn an die rechte Stelle leitet, ein eigenthümliches Vegetationsbild schauen.  im obersten Theil einer jener zahllosen Runsen, in denen der lose Mergelboden und die Sandsteinbänke nackt zu Tage treten, fällt unser Blick auf eine in dieser Umgebung befremdende Pflanzengestalt. Dem lockern Boden entspringen einzelne graulichgrüne niedrige ausgebreitete Büsche, mit violetten Blüthen geschmückt. Wir verlassen neugierig den Grat und erreichen in raschem Traversiren über weiches nachrutschendes Terrain die Fremdlinge.  Das schmale, meergrüne, dickliche Blatt; die endständige Traube aus langgespornten violetten Löwenmaul-Blüthen mit hochgelbem Gaumenfleck lässt uns eine alte Bekannte aus den Alpen wiedererkennen, das Alpenleinkraut (Linaria alpina Mill.). Wie oft hat uns sein dem steinlosen Boden entquellender Blüthenschmuck das mühselige Erklimmen alpiner Geröllhalden erträglicher gemacht! Eine weitere Umschau zeigt uns, dass noch andere Gefährten aus den Alpen ihm hieher gefolgt sind: das zierliche Weidenröschen alpiner Flusskiese (Epilobium Fleischeri Hochst.) und der weissfilzige Lattich (Petasites niveus Baumg.), der mit seinen langen Rhizomen weit im losen Terrain umherkriecht.
Wie kommen diese Kinder der Alpen hieher? Unwillkürlich hebt sich der Blick, um durch die Bäume den Hochgipfel zu suchen, dem rinnendes Wasser sie entführt haben könnte (denn das Leinkraut treffen wir im Kies der Alpenströme bis weit in's Thal herunter, vom Wasser herabgeführt).  Aber durch das Grün des Laubes schimmert uns nur blauer Himmel entgegen; wir haben bei circa 850m den Kamm des Uetli schon erreicht und die nächsten alpinen Standorte unserer Vordringlinge liegen am Rigi, in gerader Linie circa 3-4 Stunden entfernt. Oder haben die Samen auf den Flügeln des Föhns oder im Gefieder eines Vogels die weite Strecke zurückgelegt?  Für die mit windfangendem Haarschopf ausgerüsteten kleinen Sämchen (resp. Früchtchen) des Weidenröschens wie Lattichs hätte diese Annahme nichts Unwahrscheinliches, wohl aber für die glatten, nur ganz schmalflügligen Samen des Leinkrauts.
Wenn also der jetzige Zustand der Dinge zu einer Erklärung dieses sporadischen Vorkommens von Alpenpflanzen im Hügelland nicht ausreicht (wir werden später sehen, dass sich unsern alpinen Utobewohnern zahlreiche analoge Fälle anreihen), so haben wir vielleicht den Grund in einem frühern Zustand der Dinge zu suchen, vielleicht in andern klimatischen Verhältnissen, die unserem Alpenleinkraut ein allmäliges Durchwandern der trennenden Strecke gestatteten.
Und so verhält es sich in der That: sobald wir aus dem engen Kreis unserer persönlichen Erfahrungen heraustreten, lernen wir das Klima, die Vertheilung von Wärme und Feuchtigkeit auf der Erde, als eine variable Grösse kennen, die im Verlauf der geologischen Perioden der Erdgeschichte ganz bedeutende Veränderungen zeigt.
Zur Beurtheilung der klimatischen Verhältnisse vergangener Erdperioden dienen uns die fossilen Reste der Organismen, der Thiere und Pflanzen. Gestützt auf diese haben die Geologen ein ziemlich vollständiges Bild der klimatischen Umwälzungen herzustellen vermocht, die die Geschichte unseres Erdballs von den ältesten geologischen Epochen bis zur Gegenwart begleiten.
Von der Steinkohlenperiode bis zur Kreidezeit herrschte auf der ganzen Erdoberfläche, an den Polen so gut wie am Aequator, ein gleichmässiges und zwar tropisches Klima. Vielleicht schon in der mittleren Kreide, jedenfalls aber mit der Tertiärzeit beginnen die Pole sich abzukühlen, die tropische Vegetation gegen den Aequator sich zurückzuziehen.  Dieser Process setzt sich, wie' aus den klassischen Untersuchungen Heer's über das Klima der Tertiärperiode hervorgeht, während der Tertiärzeit continuirlich fort, um am Ende derselben ungefähr die jetzige Vertheilung der Wärme zu erreichen.  Nun aber, in der Diluvialperiode (Quartärzeit, Pleistocen, Glacialperiode) tritt eine merkwürdige, unerklärliche Anomalie auf: die Temperatur sinkt an sehr vielen Punkten der Erdoberfläche einige Grade u n t e r das jetzige Mittel, die Gletscher der Gebirge und des Nordens erhalten eine gewaltige Ausdehnung und bedecken grosse Flächen des ebenen Landes: wir kommen in die Eiszeit, die mit einer oder mehreren wärmeren Zwischenperioden während vieler Jahrtausende dauert. Dann hebt sich die Temperatur allmälig wieder auf die jetzige Höhe.
Welches war während dieser Eiszeit das Pflanzenkleid unserer Gegenden, und in welchen Beziehungen zur gegenwärtigen Flora steht dasselbe?  Diese und verwandte Fragen wollen wir auf den folgenden Blättern zu lösen suchen.
 
Betula nana, Salix herbaceae, Salix polaris, Salix recticulata
Erklärung der Tafel.

Originalgrösse: 25.6 x 22.2 cm (Rahmen)

... Tabelle 1:
Tabellarische Zusammenstellung der glacialen Flora
d.h. derjenigen Pflanzenfunde, die ein kälteres Klima, als das jetzige, andeuten.
Achtung bei Coniferen Fehler  
 ..

Postglacialer Thon (meist unter Torf) in:

.

Torfmoore

...
 .......

Schweiz

.......
Namen der Pflanze(1)(2)(3)(4)(5)(6)(7)(8)(9)(10)(11)(12)(13)(14)(15)(16)(17)(18)(19)(20)
Lebermoose.....................
Metzgeria furcata N.A.E..X.................
 ....................
Laubmoose.....................
Leptotrichum flexicaule Schmpr...X.................
Tortula ruralis Schwgr...X.................
Bryum pseudotriquetrum Schwgr...X.................
pallens Sw..X.................
Aulacomnium palustre Schwgr...X.................
Philonotis fontana Brid..X.................
Timmia megapolitana b norvegica Zett...X.................
Thuidium abietinurn Br. et Sch...X.................
Climacium dendroïdes W. et M...X.................
Camptothecium nitens Schmpr...X.................
Amblystegium serpens Br. et Sch...X.................
Hypnum stellatum Schreb...X.................
Wilsoni Schmpr. olim..X.................
- turgescens Schmpr.X..................
- exannulatum Guemb..X.................
- fluitans Dill...X..X............X.
- flilcinum L..X.................
- callichroum Br...X.................
- ochraceum Wus..X.................
- giganteum Schmpr..X.................
- scorpioïdes L...X..X..............
- aduncum Hedw. var groenlandicum..................X.
- sarmentosum Wahlbg..................X.
- Heufleri Jur..X.................
- diluvii Schmpr. (ausgestorben).............X......
- cupressiforme L..X.................
- cuspidatum L...X.................
 ....................
Nadelhölzer.....................
Picea excelsa Dur. gemeine Fichte .............X......
Picea obovata Led. sibirische Fichte...................X
Larix decidua Mill. Lärche...................X
Pinus montana Mill. Bergföhre...................X
- - f. obliqua Saut....................X
- - f. Mughus Scop................X...
- Cembra L. Arve...............X....
 ..............X..X..
Monocotyledonen.....................
Elyna spicata Schrad. Nackt-Riedgras...................X
Potamogeton spec. Laichkrauter ..X....X..X.........
 ....................
Dicotyledonen.....................
Salix cinerea L. graue Weide...X................
- myrtilloïdes L. myrtenblattrige Weide...X...X............
- arbuscula L. od. -myrsinites L......X..............
- hastata alpestris And.......X............
- pyrenaica Gouan. Weide der Pyrenäen.....X..............
- retusa L. stumpfblättrige Zwergweide.....X?.X............
- herbacea L. krautige Zwergweide....X...X...........
polaris Whlbg. Polar-Weide..X.XX?.X............
- reticulata L,. netzadrige ZwergweideXXX.XX.X.X..........
- glauca L. meergrüne Weide..X..X?..............
Betula alba L. gem. Birke.....X..............
- nana L. Zwergbirke..XXXXXXXXXXX.......
Alnus viridis DC. Alpenerle...................X
Polygonum viviparum L. Alpen-Knöterich.......X............
Arctostaphylos uva ursi L. Barentraube...X...X............
Vaccinium uliginosum L. Moorbeere......X.............
Azalea procumbens L. Alpen-Azalee.......X............
Saxifraga oppositifolia L...X................
Myriophyllum spec. Tausendblatt.....X.X.X..........
Dryas octopetala L. Dryas..X.XX.XXX..........
Legende:
(1) Interglacialer Thon von Thorsjö in Schweden.
(2) Interglacialer Thon des Weybourne.beds über dem Forest-bed (Norfolk).
(3) Schonen (Süd-Schweden).
(4) Bovey-Tracey in Devonshire
(5) Dänemark
(6) Mecklenburg
(7) Bayern (Kolbermoor).
(8) Schwerzenbach
(9) Hedingen
(10) Niederwyl
(11) Schönenberg
(12) Bonstetten
(13) Wauwylermoos
(14) Schieferkohlen vom Signal von Bougy
(15) von Ivrea (Piedmont)
(16) in Irland
(17) im sächsischen Erzgebirge
(18) Gerölle der Mur in Steyermark
(19) Kalktuff von Schussenried
(20) Lignite von Jarville bei Nancy

 

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