Neujahrsblatt der NGZH Nr. 104. auf das Jahr 1902; 44S. mit 2 Tafeln & 11 Fig.(Format des Hefts: 22.5 x 28.2 cm)
Der gemeine Tintenfisch
von Dr. Karl Hescheler
 
Umschlag1913
herausgegeben von der

Naturforschenden Gesellschaft in Zürich
auf das Jahr 1902.
104. Stück.

Sepia officinalis L. Der gemeine Tintenfisch
von 
Dr. Karl Hescheler
 

mit 2 Tafeln und 11 Figuren im Text
 
 

Zürich
In Kommission bei Fäsi & Beer in Zürich
 

German only

Inhalt:
Vorwort 3
Die Tintenfische sind ächte Weichtiere. 5
Systematische Bemerkungen über die Cephalopoden 15
Der Bau und die Funktionsweise des Sepiakörpers im Einzelnen. 16
1. Haut; Chromatophoren und Farbenwechsel 16
2. Der Kopffuss 21
3. Mantel, Eingeweidesack, Organe der Mantelhöhle. 24
4.  Der Trichter; die Bewegung der Sepia 25
5. Die Schale 27
6. Die inneren Organe 32 
7. Entwicklung, Biologisches, etc. 37
 
...
S. 3-5

Wer nur die Fauna unserer Heimat kennt, gelangt leicht zu der Vorstellung, dass die unter der Stufe der Wirbeltiere stehenden tierischen Lebewesen, die sogenannten niederen Tiere, wie sie häufig bezeichnet werden, im allgemeinen ziemlich unansehnliche Geschöpfe seien, denen, auch wenn wir von den Beziehungen zum Menschen vollständig absehen, nicht im entferntesten das Interesse zukommen kann, das wir den grossen Formen des Landes, den Säugetieren und Vögeln vor allem, entgegenbringen.  Eine derartige Anschauung, unwissenschaftlich an sich, wird aber auch der Laie aufgeben, sobald er Gelegenheit hat, selbst nur oberflächlich die Tierwelt des Meeres kennen zu lernen.
Wem es einmal vergönnt ist, ein grösseres, mit Meerestieren besetztes Aquarium, vielleicht gar dasjenige der zoologischen Station zu Neapel, zu schauen, dem wird der erste Eindruck, den er empfängt, sicherlich unvergesslich bleiben. Eine unendliche Fülle von neuen Gestalten, wunderbar in ihren Formen, entzückend in ihrer Farbenpracht, überraschend in ihren verschiedenartigen Lebensäusserungen, thut sich vor seinem Auge auf, spannt sein Interesse auf's höchste an.  Fremdartige, seltsame, oft abenteuerlich anmutende Wesen tauchen vor ihm auf, Repräsentanten grosser Tiergruppen, die auf dem Lande und im süssen Wasser auch nicht einen Vertreter besitzen.  So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der ganze Stamm der Stachelhäuter oder Echinodermen mit den charakteristischen, schon durch die Namen gekennzeichneten Bauformen eines Seesternes, eines Seeigels, der Seewalze und der Seelilie, vollständig auf das Meer beschränkt. Andere Gruppen, die in der einheimischen Fauna nicht fehlen, haben sich im Meere ganz verschiedenartig entwickelt, haben sich dort viel reicher gegliedert, vielseitiger ausgestaltet.  In dieser ausserordentlichen Entwicklung von Mannigfaltigkeit, wie wir sie bei unseren heimatlichen Formen niemals finden, liegt gerade das Imponierende und Grossartige der marinen Tierwelt. Und wenn wir nun versuchen, die einzelnen Gestalten zu klassifizieren, so kommen wir bald zu der Einsicht, dass der grösste Formen- und Farbenreichtum, die merkwürdigsten Lebensäusserungen, die höchste Mannigfaltigkeit auf jene sog. niederen oder wirbellosen Tiere entfallen.  Ihnen gegenüber treten die Wirbeltiere, die nicht einmal mit allen Klassen und, mit Ausnahme der Fische, überhaupt nur spärlich im Meere vertreten sind, ziemlich zurück. Wir erkennen nun zum mindesten, dass der Bau-

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plan des Wirbeltierkörpers in allen seinen Variationen, sei es des Fisches, des Amphibiums, Reptils, Vogels oder Säugetieres, die Breite der Gestaltungsfähigkeit des tierischen Körpers überhaupt nicht stärker zum Ausdruck bringt, als mancher Tierstamm aus der Reihe der wirbellosen Tiere dies zu thun vermag. Was die Wissenschaft längst erkannt hat, wird uns jetzt angesichts des Lebendigen, ewig Wechselnden klar: die heute lebenden Tierformen stellen nicht eine fortlaufend aufsteigende Stufenleiter sich immer mehr komplizierender Organisation dar.  Jede einzelne grössere Abteilung ist ihre eigenen Wege gegangen, und nur an der Wurzel hängen diese Gruppen zusammen.  Es drängt sich das bekannte Bild auf, das die Verwandtschaftsbeziehungen der Tiere unter der Form eines reich gegliederten Strauches darstellt; ein Ast ist allerdings stärker und höher als alle anderen ausgewachsen; er entspricht den Wirbeltieren und schliesst mit der höchsten Leistung der Natur, dem Menschen, ab.  Allein die anderen Aeste sind deswegen nicht minderwertig; in einer besonderen, ihnen eigentümlichen Weise haben sie sich ausgebildet, und der eine und andere hat es schliesslich auf eine Organisationshöhe gebracht, die in nichts derjenigen der einfacheren Glieder des Wirbeltierastes nachsteht. Freilich wollen wir uns vor jeder Uebertreibung hüten; es ist selbstverständlich, dass auch für den Naturforscher jederzeit die Wirbeltiere das höchste und nächstliegende Interesse besitzen werden.
Unter den spezifischen Bewohnern des Meeres, die also auf dem Lande und im Süsswasser nie heimisch geworden sind, gehören die Tintenfische oder Kopffüsser, mit der wissenschaftlichen Bezeichnung Cephalopoda genannt, wohl zu den berühmtesten.  Gefährliche Räuber von meist beträchtlicher, hie und da enormer Grösse, äusserst beweglich, an alle Regionen des Ozeans mit einzelnen Formen angepasst, geht ihre Organisationshöhe weit über das Mass hinaus, das wir bei wirbellosen Tieren anzutreffen gewohnt sind; die physiologischen Leistungen mit entsprechendem anatomischem Bau lassen sie mit den höheren Wirbeltieren rivalisieren.  In der That zählen sie unter den Nicht-Wirbeltieren zu denjenigen, die es zur höchsten Entwicklung gebracht haben.  Ihre nächsten Verwandten sind die Schnecken und Muscheln.  Mit diesen zusammen (und dazu noch die kleinen Abteilungen der Amphineuren und Scaphopoden) bilden sie den Stamm der Weichtiere oder Mollusca. Wer nun aber eine Muschel oder eine Schnecke mit einem Tintenfische vergleicht, wird auf den ersten Blick nicht viel Aehnliches finden. Stellt man jedoch, ausgerüstet mit den notwendigsten zoologischen Vorkenntnissen, eine eingehendere Untersuchung an, so werden sich bald im Baue eines Tintenfisches gewisse Hauptmerkmale erkennen lassen, welche auch die Organisation einer Muschel oder einer Schnecke charakterisieren.  Wie wir also z. B. aus der Abstraktion der wichtigsten anatomischen Verhältnisse eines Säugetieres, Vogels, Fisches etc. eine Einsicht in den Grundplan des Aufbaues des Wirbeltierkörpers gewinnen und das Gemeinsame in einem Gerüst, einem Schema, zusammenstellen

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können, so lassen sich auch die typischen Merkmale der verschiedenen Formen, unter denen der Weichtierkörper auftritt, der Schnecken, Muscheln und Tintenfische, in einer Grundform zusammentragen, von welcher man mit grosser Sicherheit behaupten kann, dass sie denjenigen Tieren ähnlich ist, die einstmals die direkten Vorfahren und der Ausgangspunkt für die heute lebenden Mollusken waren. Unter den Hauptgruppen der Weichtiere haben sich aber die Cephalopoden wohl am weitesten von dieser Grundform entfernt, ihren Körper am eigentümlichsten ausgestaltet.  So gehört denn die Zurückführung der Organisation der Tintenfische auf das allgemeine Schema, das für die Weichtiere gilt, zu den interessantesten Kapiteln jener Wissenschaft, die man als vergleichende Anatomie bezeichnet.
Aufgabe der nachfolgenden Zeilen soll sein, an Hand der Beschreibung eines bestimmten Vertreters aus der Abteilung der Cephalopoden einmal zu zeigen, wie die Tintenfische merkwürdig umgestaltete, aber dennoch ächte Weichtiere sind, ferner in spezieller Ausführung des eingangs berührten Gedankens an dem gleichen Beispiele nachzuweisen, wie eine Gruppe von Tieren, die ausserhalb des Bereiches der Wirbeltiere steht, auf eine Organisationshöhe gelangt ist, die als ganz ausserordentliche bezeichnet werden muss, wie sie mit Hülfe zum Teil ganz anderer Mittel und Einrichtungen als die Wirbeltiere dieselben Funktionen auszuüben vermag, wie ihr auch Merkmale zukommen, die wir in anderen Abteilungen gar nicht oder nur wenig ausgeprägt antreffen. Als speziell zu betrachtende Form sei der gemeine Tintenfisch, Sepia officinalis L. gewählt. Wenn im Folgenden also kurzweg vom ,,Tintenfisch" gesprochen wird, so ist zunächst immer die Sepia gemeint.

Die Tintenfische sind ächte Weichtiere.

Da nicht jedermann einen Tintenfisch auch nur oberflächlich kennt, so dürfte es angebracht sein, dass wir zunächst ein ihm verwandtes Objekt betrachten, dessen Kenntnis allgemein vorausgesetzt werden kann.  Ein solches ist z. B. unsere Weinbergschnecke, Helix pomatia L.  Dabei verfahren wir, wie etwa ein Mechaniker vorgehen würde, der einem Nicht-Fachmann eine Maschine erklären soll.  Er wird nicht etwa alle einzelnen Bestandteile der Reihe nach von hinten nach vorn oder von oben nach unten aufzählen, sondern das prinzipiell Wichtige an der Konstruktion, das er mit Hülfe einiger einfacher Zeichnungen vorführen kann, zunächst erörtern.  Gehen wir bei der Untersuchung der Weinbergschnecke ähnlich vor, heben wir die Hauptmerkmale heraus, so gewinnen wir zugleich den Vorteil, dass wir auch über die wesentlichen Organisationsverhältnisse der Weichtiere im allgemeinen orientiert sind und ohne weiteres jene oben erwähnte Urform verstehen werden.  Der Tintenfisch stellt sich dann nur als besondere Modifikation dieser Grundform vor. Auf eines muss zunächst noch aufmerksam gemacht werden.  Es genügt für die Weichtiere glücklicherweise, die
Sepia officinalis in Schwimmstellung, S. officinalis eröffnet.

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