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Inhalt: (fehlt im Original)
Einleitung 3
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Sulia 34
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Einleitung:
Wer je mit einer der grossen Dampferlinien nach Ägypten gereist
ist, der wird sich des letzten Abschiedsgrusses Europas erinnern: es war
Kreta, das sagenumwobene Eiland, das am Anfang der europäischen Geschichte
steht, - eine wilde, scheinbar unvermittelt dem Meer entsteigende grosse
Insel, deren bis weit in den Mai hinein schneebedecktes Hochgebirge durchaus
alpines Gepräge trägt. Ihr folgt in den ostmediterranen Gewässern
viele Stunden lang der Dampfer, bis sie endlich am nördlichen Horizont
in duftigster Ferne unseren Blicken entschwindet.
Schon seit Jahren war Kreta ein heissersehntes Reiseziel. Von der west-europäischen
Kultur noch kaum berührt, schien diese Insel der geeignetste Boden
zu sein, meine Studien über die Mediterranflora mit Aussicht auf Erfolg
im östlichen Mittelmeerbecken fortzusetzen.
Besonders hervorzuheben ist, dass unsere Reise in eine grosse historische
Zeit fiel, in einen Wendepunkt der Geschichte der Insel, - unmittelbar
nach der längst erhofften Besitzergreifung durch Griechenland. So
hatten wir Gelegenheit, noch das alte Kreta kennen zu lernen, das Kreta
ohne Eisenbahnen, das ausser in der Umgebung einiger Hafenstädte der
Nordküste keine fahrbaren Strassen, sondern nur Saumpfade hat, das
im Innern keine Gasthäuser kennt, wo man weit draussen auf offenem
Meere ausbootet und beim Landen allen Launen einer meist stürmisch-bewegten
See ausgesetzt ist, wo man noch vielfach bewaffnet geht, die Wohnungen
kleine Festungen sind und die Schulen, wenn solche überhaupt vorhanden,
meistens noch in ganz mittelalterlicher Weise von der Geistlichkeit geleitet
werden.
Daneben hatten wir aber doch auch Gelegenheit, Keime einer sicher zu
erwartenden baldigen neuen Blütezeit vorzufinden. Sie verschafften
uns wertvolle Einblicke in die aussichtsreichen Zukunftsmöglichkeiten
der Insel.
Viele Schwierigkeiten verursachten die Reisevorbereitungen. Auch nur
einigermassen zuverlässige Auskünfte zu erhalten, war kaum möglich.
Das Bereisen des Inneren der Insel in grösserer Gesellschaft wurde
von mancher Seite als völlig undurchführbar hingestellt, in bezug
auf Unterkunft und Verpflegung die abschreckendsten Schilderungen gegeben.
In Dr. Jos. Hazzidakis, Direktor des archäologischen Museums in Kandia,
fand ich endlich eine Persönlichkeit, die mit den Landesverhältnissen
vertraut war. Doch die Verhandlungen zur Bildung einer Maultierkarawane
unter geeigneter einheimischer Führung wollten zu keinem befriedigenden
Abschluss kommen. Da, in elfter Stunde, wurde ich von befreundeter Seite
auf einen Landsmann in Athen, Dr. Robert Stucker,
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der seit vielen Jahren am kgl. griechischen Hof eine hervorragende
Vertrauensstellung einnimmt, aufmerksam gemacht. Von diesem Augenblick
an waren alle Schwierigkeiten gehoben. Seine Exzellenz Ruffós, Zivilgouverneur
von Kreta, dem Schreiber die Ehre hatte vorgestellt zu werden, erliess
an sämtliche Eparchien und Gemeinden der Insel, die wir zu bereisen
gedachten, ein empfehlendes Rundschreiben und ordnete eine Gendarmeriebegleitung
an. Je nach Umständen bestand sie aus zwei bis acht Mann.
Bei der einheimischen Bevölkerung hatte diese Anordnung keine
ungeteilte Billigung erfahren. In einer Zeitung Candias wurden die Fremden
im „befreiten Kreta“ zwar herzlich willkommen geheissen und ihnen versichert,
dass sie überall mit altkretischer Gastfreundschaft empfangen werden
sollen, gleichzeitig aber der Verwunderung über die angeordnete, völlig
überflüssige Gendarmeriebegleitung Ausdruck gegeben. Darauf gab
die Behörde in einer amtlichen Mitteilung die Erklärung ab, dass
es sich nicht um eine Schutztruppe, sondern um ein Ehrengeleite und um
die Führung der Studienreise handle. Bei den vielfachen Unzuverlässigkeiten
der Karte, bei unserer völligen Unkenntnis der Einquartierungsverhältnisse,
der geeigneten Rastplätze, der Quellen und der Entfernungen ist uns
diese Begleitung von grösstem Nutzen gewesen; sie war geradezu eine
absolute Notwendigkeit.
Am wertvollsten war aber, dass Dr. R. Stucker schrieb: „Wenn Sie gestatten,
werde ich mir erlauben, Sie durch das Innere Kretas zu begleiten“. Einen
berufeneren Führer und Dolmetscher hätten wir uns gar nicht wünschen
können. Auch an dieser Stelle sei ihm für seine mannigfachen
Anregungen, seine vielfachen Bemühungen und sein reges Interesse,
das er tagtäglich am Gelingen unserer Reise genommen hat, der allerherzlichste
Dank ausgesprochen.
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Zurückgekehrt, erweisen wir der vom Expeditionskoch vorgesetzten
Mahlzeit alle Ehre, noch mehr aber dem herrlichen Kreterwein, einem ganz
vorzüglichen Tropfen. Um uns entwickelt sich ein eigentliches Volksfest.
Einer unserer Treiber nimmt die Lyra zur Hand und spielt melancholische
Weisen. Bald wird getanzt, doch nur von Männern; die Frauen sind spärlich
vertreten und halten sich bescheiden im Hintergrund. Rede und Gegenrede
werden gehalten und angestossen auf die glückliche Zukunft Kretas
unter dem siegreichen Banner Grossgriechenlands.
Als wir aufbrechen wollen, kommen Bürgermeister und Dorfpatriarch,
zwei alte Knaben mit schneeweissen Haaren, und erbitten sich die Erlaubnis,
zu Ehren der fremden Gäste den kretischen Nationaltanz vorführen
zu dürfen. Mit ungewöhnlicher Grazie, die mit dem rauhen Ausseren
nicht recht in Einklang zu bringen ist und daher fast komisch wirkt, und
mit einem.Ernst und einer Würde, als ob es sich um die wichtigste
Staatsaktion handeln würde, reichen sie sich die Hände und der
Reigen beginnt. Bald schliessen sich auch der Notar und die fünf
Schulmeister an. Die Kette wird immer länger. Unsere Gendarmeriebegleitung,
die beiden Kawassen von Dr. Stucker, schliesslich alles, was im Ort Ansehen
und Namen hat, ist daran beteiligt. Trotz der grossen Zahl werden doch,
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alle Bewegungen mit seltener Präzision ausgeführt. Es ist
ein wahrer Hochgenuss, dem rhythmischen Hin- und Herwogen der Reihen zu
folgen.
Nur schwer entschliessen wir uns, abzubrechen und von der liebenswürdigen
Bevölkerung Abschied zu nehmen. Doch es muss sein, denn wir haben
bis zum Nachtquartier noch einen dreistündigen Ritt vor uns.
Die schöne Strasse hört auf. Acht Tage werden wir nur noch
Maultierpfade zu sehen bekommen. Gleich am Ausgang von Arkhanaes kann man
sich von diesen Verkehrswegen einen Begriff verschaffen. Über ein
sehr steiles, ungemein steiniges Wegstück werden durch Zurufe der
Begleitmannschaft die Tiere so getrieben, dass von den aufschlagenden Hufen
die Funken nur so herumspringen.
Bald liegt das Kulturland hinter uns. Wir kommen auf ein nahezu unbewohntes,
welliges Hochland, an dessen Rand wir längere Zeit hinreiten. Unter
uns breitet sich ein weites Fruchtbecken mit ungezählten, in Olivenhainen
ein-gestreuten Ortschaften aus. Weit im Osten, in duftiger Ferne, schliessen,
wie eine kompakte Mauer, die schneebedeckten Lasitischen Berge den Horizont
ab. Im Westen folgt ein Höhenzug dem andern, alle mehr oder weniger
parallel und immer höher, zu dem mächtigen Massiv des Ida ansteigend.
An einer Stelle habe ich nicht weniger als elf kulissenartig einander ablösende
Bergketten gezählt. Stunden vergehen, bis man ein vereinzeltes, festungartiges
Gehöft, umgeben von einigen grossen noch völlig unbelaubten Eichen
antrifft. In einer Meereshöhe von etwa 500 bis 600 m ist sonst alles
kahl; das Landschafts- und Vegetationsbild hat ein Aussehen wie bei uns
in einer Höhe von etwa 2400 m. Nur in muldenförmigen Vertiefungen,
im relativen Windschutz, sieht man einige kümmerliche Holzpflanzen:
einen wollhaarigen Weissdorn oder etwa eine Wildbirne. Im Gegensatz zur
Blütenpracht, die uns am Vormittag erfreut hat, ist die Pflanzenwelt
noch kaum erwacht, und doch besteht nur ein Höhenunterschied von nicht
viel mehr als 300 m. Wiederum scheint die Leitpflanze das stachelige Poterium
spinosum L. zu sein; zu ihm gesellen sich Erica, mehrere Rutenpflanzen,
Osyris und Ginster.
Ein herrlicher Abend ist uns beschieden. Die untergehende Sonne ruft
prachtvolle Lichteffekte hervor. Ein tiefes, flammendes Rot umgibt das
Tages-gestirn, indessen die Berge um uns in allen Abstufungen vom zarten
Blau zum erlöschenden Blauviolett abgetönt sind. In gehobener
Stimmung, aber bereits bei einbrechender Dämmerung wird das Kloster
Hagios Georgios (450 m) erreicht. Der liebenswürdige Abt und seine
Mönche bereiten uns einen überaus gastfreundlichen Empfang.
* * *
Im frühen Mittelalter sind in Zentraleuropa die Klöster wichtige Kulturzentren gewesen. Von ihnen aus wurde das Land urbar gemacht, in ihnen fanden
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Wissenschaften und Künste eine Heimstätte. In breiten Volksschichten
ist das Bewusstsein ihrer einstigen Kulturmission allerdings vollkommen
verloren gegangen oder doch nur aus der Geschichte bekannt. In Westeuropa
sind wir heutzutage ganz allgemein gewohnt, das Klosterleben als ein Leben
des „dolce far niente“ zu erklären.
Gleich der kurze Aufenthalt im Monasterium von Hagios Georgios hat
uns gezeigt, dass man in Kreta völlig in die Zeit der mittelalterlichen
Klostertätigkeit zurückversetzt wird. Die späteren Erfahrungen
haben diese Anschauung bestätigt.
Hagios Georgios liegt im Bergland. Ringsum, soweit das Auge reicht,
herrscht nur ursprüngliches Wildland, mit Phrygana und Felsenheide
bedeckt; es gewährt einzig grossen Schaf- und Ziegenherden dürftige
Nahrung. Ortschaften sieht man keine. In dieser weltabgeschiedenen Einsamkeit
stösst der Wanderer plötzlich auf die klösterliche Kulturoase,
die gerade so weit reicht, als der Fleiss der Mönche den Boden bebaut
und bewässert hat. Das Kloster besteht aus einem kleinen, schmucken
Dörfchen. Neben der Kirche und den Wohnungen der Mönche umfasst
die Anlage einen grossen landwirtschaftlichen Betrieb mit vielen Hektaren
Kulturland, die von einer Trockenmauer umgeben sind. Das stattlichste Gebäude
ist die Herberge, in ihr finden Vorbeireisende gastliche Aufnahme.
Vor sich sieht man prachtvoll grünes Wiesenland, Getreidefluren,
Ölbaumpflanzungen, Rebgelände, einen hübschen Obstgarten
mit einer Orangenkultur, vielen Mandel-, alten Maulbeer- und Feigenbäumen.
Auch einige Kühe werden gehalten. Ein Mutterschwein, von einem
ganzen Rudel von Ferkeln gefolgt, wälzt sich im nahen, von einem murmelnden
Bächchen durchzogenen Sumpfboden. Scharen von Hühnern mit ihren
Jungen beleben die nächste Umgebung. Rosen winden sich an den Klosterzellen
empor. Am Feldwege stehen die hohen, abgestorbenen Kandelaber vereinzelter
Agaven; da und dort sieht man einen Eucalyptus mit unordentlich herabhängenden
Rindenfetzen. Vogelgezwitscher belebt diese Stätte stiller, pflichttreuer
Arbeit.
Überall erheben sich, vereinzelt oder in Gruppen, Zypressen, bald
in Säulenform, bald als gewaltige Riesen, mit weitausladendem Geäst
und schirmförmiger Krone, ganz an Libanonzedern erinnernd. Wenn zwischen
den dunklen Säulen die kleinen, schmucken Häuschen und das tiefe
Blau des griechischen Himmels durchschimmern, so nimmt sich das ganze Bild
ungemein malerisch und lieblich aus. Alles atmet Frieden, zähen Fleiss,
einen gewissen Sinn für Behaglichkeit und für das Schöne
in der Natur. Im Süden schliesst das kleine Fruchtbecken mit mehreren
Hügel- und Bergketten ab, deren letzte sich im bläulichen Duft
verliert.
Ein alter, freundlicher Gendarm, mit schneeweissem Haar und Schnurrbart,
gibt uns auf einer Exkursion ins Wildland das Geleite. Der Vegetationscharakter
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zeigt wenig Abwechslung. Immer kehren die struppigen, dornigen Kugelbüsche
von Poterium und Calycotome spinosa wieder. Dazwischen sieht man die kahlen
Ruten von Spartium, eines Ginster oder die mit roten Beeren beladenen Sträuchlein
von Osyris alba L. Passerina hirsuta ist ein kniehohes Holzgewächs
mit zierlich überhängenden Zweigen und anliegenden Schuppenblättern.
Dort blüht ein roter Cistus; ganz besonders reichlich vertreten sind
die herrlich sattgelb blühenden Büsche der Phlomis. Eine windende
Spargel (Asparagus acutifolius) durchzieht das kleine Gestrüpp. In
den Lücken stehen die grossen, dunklen Blattbüschel der Urginea
maritima; der Asphodill ist eben im Begriff seine stattlichen Blütentrauben
zu entfalten. Dazu gesellen sich wiederum viele Orchideen. Und zu Hunderten,
nein, zu Tausenden entsprosst dem Boden ein zartes, irisartiges Gewächs,
Gynandriris Sisyrinchium, das wir vor Jahren zuerst in der spanischen Litoralsteppe
gesammelt haben, später auch in Nordafrika kennen lernten und dessen
Areal das ganze südliche Mittelmeerbecken und Vorderasien bis Südpersien
umfasst. Dicht über der Erde erheben sich ein oder zwei zusammengefaltete,
meist sichelförmig gekrümmte Laubblätter und eine rasch
vergängliche, zart lebhaft blaue Blüte.
Inzwischen war in der „Herberge“ ein reichliches Abendmahl zubereitet
worden. Die Mönche sind auffallend stattliche Manner, sie tragen grosse
Bärte, die Vollpriester lange Haare, die nach Art der Frauen auf dem
Hinterkopf zu einem Chignon zusammengefasst sind; die Novizen lassen die
Haare in Locken auf die Schultern herabfallen. Unter der Soutane
stecken lange Dolche; in den Zellen fanden wir überall Waffen. Mehrere
unserer Gastgeber haben die letzten Kriege mitgemacht; in früheren
Jahren sind sie öfters in den Fall gekommen, ihre kleine Klosterfestung
gegen Türken oder herumziehende brandschatzende Banden zu verteidigen.
So heisst es auch hier: „in der einen Hand die Spate, in der anderen das
Schwert“. Selbst Knaben von 6-8 Jahren sahen wir mit einem Selbstbewusstsein
und kühnen Blick den Dolch im Gürtel tragen, als ob sie sagen
wollten: „Sind wir nicht freie Kreter, wer wagt es, mit uns anzubinden?“
Von all den Eindrücken hochbefriedigt, singen wir Schweizerlieder
und jodeln. Der Abt isst mit uns, doch wegen der Fastenzeit erhält
er nur einen grossen Teller voll Honig und Brot. Keinen Augenblick verliert
er seine stoische Ruhe; ernst und gemessen bleiben seine Gesichtszüge.
Ein Teil der Gesellschaft findet in der Herberge keinen Platz mehr;
Mönche überlassen bereitwilligst ihre Zellen. Ein kleines Öllämpchen
brennt während der Nacht in jedem Gemach. Das Lager war hart und rauh,
aber warm und ordentlich sauber, das Zimmer so hoch und geräumig,
dass das Schnarchen meines Reisebegleiters ein gewaltiges Echo gab, das
sich wie der Donner eines vorbeiziehend en Gewitters ausnahm.
Der folgende Morgen versprach wieder ein herrlicher Tag zu werden.
Das Frühstück, das uns aufgetischt wurde, werde ich nie vergessen.
So üppig
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habe ich am frühen Morgen noch nie gespeist, gab es doch acht
Gänge. Hier die Speisefolge:
1. Mastik und Lukumi,
2. Vorzüglicher schwarzer, arabischer Kaffee.
3. Milchkaffee mit Biskuit.
4. Reissuppe mit Eiern und Zitronen.
5. Schaffleisch, gebraten, mit herrlichem Kreterwein.
6. Eier und kretischer Zigerkäse mit Honig,
7. Milchsuppe mit Reis.
8. Orangen und andere Früchte (Mespoli),
Bis Hagii Dheka haben wir heute einen sechsstündigen Ritt. Der
Abt und einige ältere Mönche wollen uns auf ihren schönen
Pferden das Geleite geben, um uns dem dort residierenden Bischof vorzustellen.
Nach Besichtigung der Klosterkirche werden die Reittiere vorgeführt.
Als wir aufbrechen, läuten zum Abschied die Glocken und die zurückgebliebenen
Mönche winken uns noch lange nach.
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