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1. Die äusserliche Erscheinung der Gipfelflur.
Wohl alle meine Leser haben schon oftmals den Anblick der Alpen von
beherrschenden Aussichtspunkten aus genossen und das herrliche Bild hat
sich tief in ihr Gedächtnis eingeprägt. Sie erzählten von
dem „Meer von Berggipfeln", das vor ihnen lag. Der Vergleich war ihnen
deshalb nahe, weil auch die Gipfelhöhen des Gebirges, wenigstens regionenweise,
eine auffallende Ausgeglichenheit ihrer Höhe ähnlich den Wellen
des Meeres zeigen, und weil die Ausdehnung des ganzen Gebirges im Vergleich
zum einzelnen Berge fast so gross schien wie das Meer im Verhältnis
zu seinen Wellen.
In keiner Gebirgsregion gibt es einen Gipfel, der alle Umgebenden sehr
wesentlich überragen würde. Die Ausnahmen von dieser Gebundenheit
der Gipfel an eine ausgeglichene Höhe sind fast immer ganz bescheidenen
Art. Sie können in den Alpen auf einige hundert Meter steigen (Säntis
und Glärnisch sind ca. 300 m, Tödi etwa 400 m zu hoch), aber
sie gehen (mit Ausnahme des Monte Viso in den Westalpen) niemals gegen
1000 m.
Übersehen wir die Alpen von einem etwas herausgehobenen oder ganz
ausserhalb liegenden Standpunkt, wie z. B. Weissenstein, Hohentwiel, Säntis,
Mythen, Monte Generoso etc., so sehen wir beim Blick gegen Osten oder gegen
Westen, wie das Gebirge vom Aussenrand gegen die Zentralzone hin in stetig
und ziemlich gleichmässig zunehmenden Gipfelhöhen ansteigt.
Diese Erscheinung liegt uns im Bewusstsein. So ist es jedem in den
Alpen Bewanderten unwillkürlich selbstverständlich, dass es im
Gebiete des Kantons Schwyz keinen Gipfel von 3000 m geben kann, und dass
am Vierwaldstättersee ein 4000er unerhört und unmöglich
wäre. Im grössten Teil Graubündens liegen die Gipfelhöhen
zwischen 3000 und 3400 in, nur in der Region Oberengadin S-Seite liegen
sie zwischen 3400 und 4000 m.
Andererseits ist kein selbständiger Kulminationspunkt von bloss
Rigihöhe in der Kette Calanda-Dents du Midi oder in der Wasserscheidezone
zwischen Rhone und Rhein gegen den Po hin möglich. Sogar die Passeinschnitte,
mit einziger Ausnahme der Maloja, sind viel höher als die Rigi.
Die gleiche Erscheinung wiederholt sich im Juragebirge, das eine Abzweigung
von den Alpen ist. Von Ost nach West steigen die Kammhöhen von 900
m ziemlich gleichmässig langsam bis 1600 m an. Aber nie unterbricht
ein 2000er oder gar ein 3000er die ausgeglichenen Höhen der Firstlinien.
Überall zeigt sich die Tatsache, dass die Gipfelhöhen regionenweise
oder zonenweise auf bestimmte Beträge abgestimmt, eingestellt oder
ausgeglichen sind.
Für diese auffallende Erscheinung der regionalen Ausgeglichenheit
der Gipfelhöhen hat 1919 Penck das Wort „Gipfelflur" geprägt.
Die Geographen haben vielfach ein Geschick in solchen Worten entwickelt.
Oft sind sie sehr nützlich. Schädlich aber können sie werden,
wenn das Wort aus einer irrtümlichen Theorie hervorgegangen ist. Oft
haben dann solche Schlagworte eine hypnotisierende Kraft. Hat man das Wort,
so ist man suggeriert in Beziehung auf die Sache. Die Suggestion kann ins
weite Publikum hinaustreten und dort falsche Theorien dogmatisieren bis
in die Schulbücher hinein. Ich brauche nur zu erinnern an einzelne
Glieder des „glazialen Formenschatzes" (U- und V-Täler). Im
Wort „Gipfelflur" liegt glücklicherweise keine Theorie Es bezeichnet
einfach eine Erscheinungstatsache. Es ist uns willkommen.
Die Tatsache der Gipfelflur besteht, sie ist aber nur angenähert
in Zahlen zu fassen. Ihre Bestimmung erfordert etwas Formensgefühl.
Die Gipfelflur ist die von Natur annähernd gleiche Höhe der Grosszahl
der höchsten Kulminationen einer Gebirgsregion oder Gebirgszone. Es
handelt sich dabei nicht um einen geometrisch definierbaren oder rechnerisch
festzustellenden Begriff, sondern um das Erfassen der merkwürdigen
Tatsache, dass scharenweise beisammen auftretende Gipfel immer ähnlich
hoch sind.
Die Gipfelflur kann gegen eine andere Region hinansteigen oder absinken
seltener auch plötzlich abbrechen, um einer wesentlich anderen Gipfelflur
das Gebiet zu räumen. Der Gipfelflur gehören alle Gipfel an,
die der mittleren Höhe der höchsten Kulminationen innerhalb ±
100 bis 300 m entsprechen. Sehr selten gibt es Gebirgsregionen, in denen
zwei verschieden hohe Gipfelfluren sich durchsetzen oder dicht zusammenstossen
(Bergell: Bernina; Himalaja).
Die Tatsache der Gipfelflur ist schon lange beachtet und beschrieben
worden. Die ersten Hypothesen über die Entstehung oder Ursache der
Gipfelflur gruppieren sich in die Stauungshypothesen und die Reliktenhypothesen.
Die Geologen waren am ehesten geneigt, die Gipfelflur, ihr Ansteigen von
den Randzonen nach dem Innern eines grossen Gebirges, als einfachen Ausdruck
der Verteilung der ursprünglichen Aufstauungshöhen im Gebirge
anzusehen. Die Geographen sahen die Gipfel eher für die Relikte einer
ursprünglichen, später durch Täler vollständig zerstückelten
Plateaufläche an. Dabei dachten die einen an die ursprüngliche
Aufwölbungsfläche des Gebirges, andere an eine aus einer bestimmten
Phase hervorgegangene "Fast-Ebene". Einige wollten sogar in letzterer die
präglaziale Oberfläche der Alpen sehen, die dann durch die Gletscher
bis auf die Gipfel als Reste zerschnitten worden sei!
2. Der innere Bau einer Gipfelflur.
Gewiss ist die Gipfelflur zunächst eine Erscheinung der Oberflächengestaltung,
also der äusseren Form: Aber die vielfach versuchte bloss morphologische
Betrachtung wäre ein Irrweg. Sobald wir den inneren Bau der zu einer
Flur gehörigen Gipfel prüfen, kommen wir zu dem Resultate, dass
die Gipfelflur dem inneren Bau oder der „angeborenen Höhe" gar nicht
entspricht, vielmehr ihm zum Trotze besteht und den inneren Bau vollständig
überwunden hat. Bau und Gipfelflur stehen in einem scharfen Gegensatz.
Wir müssen dies zunächst mit einigen Beispielen belegen, die
für hunderte gelten sollen: ...
...
5. Die äusseren Ursachen der Gipfelflur.
Wir haben festgestellt, dass sich die Gipfelflur nicht dem inneren
anatomischen Bau des Gebirges anschmiegt, sondern der allgemeinen äusseren
Gestalt der Erdrinde zustrebt. Ihre Modellierung geht von der Aussenseite
aus ,und greift an der Aussenfläche an. Ihr Endziel ist Ausgleichung
der Gipfelhöhen und Erniedrigung bis zum Verschwinden des Gebirges.
Das bestehende Gebirge ist eine zwischenzeitliche Form zwischen Stauungsform
und Abtragsebene.
Die Differenz zwischen Faltungshochgang, d. i. ergänzte Faltenhöhe,
und jetziger Gebirgshöhe ist das Ausmass für den Anteil,
den der Verwitterungsabtrag an der Ausbildung der jetzt bestehenden Gipfelflur
genommen hat.
Der Verwitterungsabtrag ist durch viele äussere Faktoren bedingt,
mit denen er variiert. Er arbeitet in zwei sich unterstützenden Formen
gleichzeitig und am gleichen Orte: 1. Verwitterung, das ist Auflösung
und Zerfall der Gesteine durch chemische und mechanische Einflüsse
von aussen: Schwere, Temperaturwechsel, Wasser und Luft chemisch und mechanisch.
2. Ausspülung durch die Stosskraft des gesammelten fliessenden Wassers
(Erosion i. e. S.). Beide Vorgänge unterstützen sich: Die Verwitterung
trennt die Gesteinsstücke ab, welche dann vom fliessenden Wasser gerollt
die Wasserwege immer tiefer ausschleifen, — und das Einschneiden der Wasserläufe
entblösst immer mehr die Bergflanken für den Verwitterungsangriff,
sie schafft die Furchen. Die Erosion vertieft dieselben vertikal;
die Verwitterung schrägt die Gehänge ab und erweitert die Furchen
nach oben. Beide schreiten in ihrer Formung von aussen nach innen und von
unten nach oben vor, sie befördern aber den Gebirgsschutt von innen
nach aussen und von oben nach unten. Wasserfurchen wie Verwitterungsnischen
verschieben sich rückwärts, vertiefen sich bergeinwärts
und verzweigen und erweitern sich bergeinwärts, und beide streben
eine Verminderung der Böschung ihrer Bahnen an. Die übersteilen
Böschungen wandern rückwärts, d.h. gebirgseinwärts.
Beide arbeiten um so rascher, je zerstörbarer das Gestein ist, sie
tragen deshalb zerstörbarere Massen rascher ab und schälen eingeschlossene
festere, weniger rasch zerfallende, heraus. Die beiden Vorgänge sind
von schwankender Intensität; sie können nach Zeit und Ort bald
unmerkbar langsam, oder auch katastrophal (Rutschungen, Bergstürze
etc.) verlaufen.
Manche Leser werden sich darüber verwundern, dass
ich nicht für das Zustandekommen des Abtrages hier noch das Eis, die
Gletscher
als wesentlich hervorhebe. Das Eis modifiziert besonders die Art des Abtransportes
des Verwitterungsschuttes. Den direkten Abtrag am Fels durch Eis habe ich
trotz seinen auffälligen Erscheinungen stets als für die gesamte
Talbildung im Grossen ganzen quantitativ verschwindend klein betrachtet.
Wir können ihn hier als eine Modifikation geringfügiger Bedeutung
und zeitlicher Beschränkung in der grossen Wasserarbeit miteinbegreifen.
Wir dürfen das um so eher, als selbst PENCK nun zu dem Ausspruch gelangt
ist: «Das Antlitz der Alpen steht in vieler
Abhängigkeit von der Eiszeit, aber was diese Periode ihrer Geschichte
gezeitigt hat, sind im Grunde genommen doch nur Verzierungen in
den grösseren Formen der Täler, den durch die Denudation erweiterten
Einschnitten des rinnenden Wassers.» Also
auch hier wird Verwitterung und rinnendes Wasser, nicht mehr Eis, als der
grosse Formbildner anerkannt. Wir sind vollständig einverstanden!
Kommentar der Uebertragers: In meinem persönlichen
Vokabular wird die hypothetische Gletschererosion von vielen Seebecken
als "selektive Schabkraft der Gletscher" bezeichnet. Die Gletscher hätten
nach der Theorie selektiv dort graben sollen, wo sie am dünnsten und
am langsamsten waren. Das funktioniert meines Erachtens nur in Zusammenarbeit
mit einem Tiefbauunternehmer, denn ein Gletscher erscheint nicht plötzlich
als eine hundert Meter hohe Eiswand. Die Erosionstheorie entstand im
neunzehnten Jahrhundert, wanderte dann in die Schulbücher und ist
offenbar nicht mehr auszurotten. - Es ist unbestritten, dass Gletscher
bei einer Krümmung in der Vertikalen Übertiefungen graben - dies
geschieht beim Fliessen vom Berg in eine Ebene oder vor einer Verengung.
Dabei lässt sich die Gleichgewichtstiefe (d.h. die Tiefe in welcher
Erosion und Akkumulation gleich sind) rechnerisch bestimmen.
Ungefähre Bestimmungen des mittleren Abtrages sind schon öfter
durch Vermessungen der Alluvionen an Flussmündungen gemacht worden.
Für alpine Flussgebiete haben sie uns bisher auf einen mittleren Abtrag
von 1 m in 1500 bis 4000 Jahren geführt.
Der Verwitterungsabtrag ("Denudation" Verwitterung + Erosion)
hängt in seiner Stärke von vielen Faktoren ab:
1. Je grösser die Höhe des Gebirges desto grösser die
Gefälle. Dadurch wird um so rascher das Einschneiden der Talfurchen,
das Nachstürzen der Gehänge, die Zuschärfung der Bergkanten
als Wasserscheiden zwischen Flussgebieten. Mit der Erniedrigung des Gebirges
verlangsamt sich das Einschneiden der Täler und das Abrutschen ihrer
Gehänge.
2. Mit der Höhe nimmt der gesteinszerstörende Temperaturwechsel
(Frost und Bestrahlung) stark zu.
3. Der Abtrag nimmt stark zu mit der Veränderlichkeit der klimatischen
Faktoren, besonders in Menge und Intensität der Niederschläge.
4. Der Gipfelabtrag ist grösser bei leichter verwitterbaren Gesteinen,
indem bei solchen die möglichen Maximalböschungen der Gesteine
geringer sind, so dass die flachere Abschrägung der Gehänge die
zwischen den Tälern bleibenden Grathöhen mehr erniedrigt.
Wir suchen nach dem Einfluss des Gesteines auf die Gipfelflur.
Er ist gewiss nicht gross, denn viele Gipfelfluren greifen nicht wesentlich
gestört durch Berge verschiedensten Baumateriales. Man wird diesen
Einfluss nur da zu fassen vermögen, wo ausgedehntere Regionen von
durchgreifend sehr verschiedenem Gestein unter ähnlichen Bedingungen
(Klima, Erosionsbasis) nebeneinander stehen. Die meisten Gebirgsgruppen
in den Alpen enthalten in starker Mischung Gesteine sehr verschiedener
Art, sie können uns für die vorliegende Frage nicht dienen. Dagegen
treffen wir den Bündnerschiefer als fast ausschliessliches Gestein
in den Talgebieten der Landquart, Plessur, dann S des Vorderrheins von
der Lenzerheide gegen W durch Domleschg, Safien und Lugnetz. Dieses
Gebiet von ca. 1300 km2 hat eine Gipfelflur von ca. 2500 m. Die Gipfel
seiner Umrandung, die z. T. auch noch Bündnerschiefer, aber mit anderen
Gesteinen durchsetzt, enthalten, oder die aus ganz andern Gesteinen (kristallinen
Silicatgesteinen, kalkigen Trias, Jura und Kreidegesteinen) bestehen, ordnen
sich in eine Gipfelflur von 2900 m. In diesem Höhenunterschied ist
indessen auch noch ursächlich der Umstand beteiligt, dass die
Umrandung des Bündnerschiefergebietes etwas weiter von der Erosionsbasis
zurückliegt. Immerhin ergibt sich, dass der Bündnerschiefer
eine um einige 100 m tiefere Gipfelflur ergibt, als die anderen Gesteine.
Der Bündnerschiefer ist vorherrschend leicht zerstörbarer Tonschiefer,
kalkiger Tonschiefer, sandiger Tonschiefer bis Sandstein. Er ist zu Abrutschungen
geneigt, ist im ganzen schwer durchlässig und erträgt im Mittel
nur eine geringere Maximalböschung mit grösserer Dichte der Wasserrinnen.
Ein Vergleich des graubündischen Schiefergebietes
mit dem Tessiner Gneisgebiete zeigt uns den Einfluss des Gesteines sehr
bestimmt. Im ersteren sind die mittleren Gehängeböschungen nur
etwa 20 bis 300, im Tessiner Gneisgebiete 45 bis 500. Bei gleichen Entfernungen
der Talwege voneinander ist die relative, d. h. von den Talgründen
aus gemessene Gipfelflur im bündnerischen Schiefergebirge um 500 m
niedriger, als im Tessiner Gneisgebirge.
5. Der Abtrag des Gebirges nimmt zu mit der Dichte der Talwege. Die
Dichte der Wasserläufe ist geometrisch schwierig fassbar. In den Alpen
finden wir die Haupttalwege durchschnittlich etwa 5 km, die Nebentäler
etwa 4 km voneinander entfernt. Die Flussdichte nimmt zu mit der
Undurchlässigkeit der Gesteine und mit der Menge der Niederschläge,
aber die Variation ist meistens innerhalb der Alpen gering. Gewiss aber
ist die Taldichte im allgemeinen sehr massgebend für die relative
Höhenlage der Gipfelflur, weil in den Hochalpen meistens die Gipfel
und Kämme nur die zwischen den Tälern belassenen Ruinenreste
ohne Plateaureste sind.
6. Die absolute Höhe der Gipfelflur nimmt ab mit der Annäherung
und der Tiefe der Erosionsbasis.
In der jetzigen Gestaltung der Alpen ist dieser letzte Faktor in seiner
Wirkung und seinem unmittelbaren Einfluss auf die Gipfelflur am klarsten
festzustellen. Wir betrachten ihn an einem einzelnen gut fassbaren Falle
(Beispiel Nr.6 und Figur Nr.9) und knüpfen noch einige weitere Betrachtungen
daran.
...
6. Die inneren Ursachen zur Gipfelflur
Fig. 10. Die vertikalen tektonischen Masse eines Faltengebirges.
D: normale Dicke der zusammengeschobenen Erdrinde
G: Gleitfläche unter der gefalteten Rinde
a: Dickenzuwachs der Erdrinde durch Faltung
A: Gesamtaufstauung durch die Faltung
j: isostatische Einsenkung
H: Faltenhochgang, Grenzlinie = ca. Meerniveau
T: Faltentiefgang
d: Denudation
h: Höhe des Berges
... Wir wollen nicht weitere Rechnungen an diese Formel (Gleichung
für die alpine Isostastie) knüpfen, so verführerisch
das ist. Die zu schätzenden Zahlen sind zu unsicher, die Fehlerquellen
zu gross. Nur die allgemeine Grössenordnung wird stimmen. Festhalten
dürfen wir:
Der Auftrieb durch den Massendefekt trägt die Berge. Der Faltentiefgang
ist ein Mehrfaches oder Vielfaches (10 bis 20 faches) der mittleren Gebirgshöhe.
Das durch den Tiefgang verdrängte Gestein hatte im Mittel etwa 0.1
bis 0.2 mehr Dichte als das eingetauchte Faltenpaket.
...