Neujahrsblatt der NGZH Nr. 130 auf das Jahr 1928; 39S. mit 14 Abb.(Format des Hefts: 22 x 29 cm)
Unser Nationalpark und die ausserschweizerischen alpinen Reservationen
von Stefan Brunies.

Neujahrsblatt

herausgegeben von der

Naturforschenden Gesellschaft in Zürich
auf das Jahr 1928.
130. Stück.

Unser Nationalpark
und die ausserschweizerischen alpinen Reservationen

von 

STEFAN BRUNIES
 

mit 1 Tafel, 2 Karten, 8 Autotypien und 3 Figuren
 
 

Beer & Cie, in Zürich

 

German only

 
 
 
 

Inhalt:
Über die Gründung des Schweizerischen Nationalparks 3
In den Engadiner Dolomiten 11
Von den Pflanzen 17
Von den Tieren 26
Die ausserschweizerischen Nationalpakre und Schonbezirke im Alpengebiet 32
1. Vom italienischen Nationalpark 32
2. Vom Naturschutzpark in den Salzburger Alpen 34
3. Von den Schutzgebieten in den bayerischen Alpen 35
a) Das Naturschutzgebiet in den Ammergauer Bergen 35
b) Das Naturschutzgebiet im Karwendel 37
c) Das Naturschutzgebeit am Königssee, in den Berchtesgadener Alpen 37
 
 

 

Nationalpark Schweiz, Grenzen 1928
Über die Gründung des Schweizerischen Nationalparkes.
Die Rede Dr. BISSEGGERS vom 25. März 1914 im Nationalrat und der Anteil Zürichs an der Schaffung und wissenschaftlichen Erforschung unserer Grossreservation.
«Es gibt viel gewaltige Dinge auf der Welt, nichts aber ist gewaltiger als der Mensch. Der Spruch des grossen griechischen Dichters wird durch nichts lebendiger und eindringlicher illustriert als durch die Tatsache, dass der Mensch, nachdem er der absolute Beherrscher der Erde und seiner Mitgeschöpfe geworden, sich gedrungen fühlt, zum teilweisen Schutz der letztem gegen seine eigene Macht und seine Vergewaltigungsgelüste gewisse Schranken aufzurichten, Tier- und Pflanzenasyle zu schaffen, geheiligte Freistätten der Natur.
Mit geringen äussern Mitteln hat er einst den Kampf um die eigene und die Existenz seiner Art aufgenommen gegen tierische Konkurrenten, die ihm zum Teil an Körperkraft und jedenfalls an Zahl weit überlegen waren. Er hat sie alle überwunden, teils gebändigt und in seinen Dienst gezwungen. teils mit grösserer Rücksichtslosigkeit als die gewalttätigsten Eroberer der Menschengeschichte ausgerottet. Heute ist der Mensch der unumschränkte Gebieter; er hat zu seinem Nutzen den grössten Teil der Erde kultiviert, und er ist unermüdlich daran, sein Werk weiterzuführen und zu vollenden. Wir Schweizer, bei denen der schwerste und verdienstvollste Teil der Arbeit seit vielen Jahrhunderten getan worden ist, wissen davon zu erzählen. Korrigieren wir doch mit unerschöpflichem Eifer und ohne den Geldaufwand zu beachten, unsere Flüsse und Bergbäche, trocknen Sümpfe und Moore aus und forsten die steilsten Hänge der Berge auf.
Aber in die gerechte Freude über das Errungene mischt sich neuerdings ein Gefühl der Bitternis und fast der Reue über die Opfer, die uns das alles gekostet hat, über das Aussterben gewisser Tierarten die einst den Stolz des Landes bildeten, des Bären, des Steinbocks, des Geiers - fast möchte man den Adler hinzufügen - um nur die gewaltigsten und eindrucksvollsten zu nennen; über die Verödung unserer korrigierten Gewässer, über die Abnahme der Singvögel und die Ausrottung edler Pflanzenarten, die von einer falschen Naturfreude und Verbildung wie von roher Renommisterei zugleich bedroht sind. Edlere Naturen, vor allem unter den Männern der Wissenschaft, erhoben ihre warnende Stimme und sie verfehlt die Wirkung nicht auf die grosse Gemeinde derer, die heute noch das materielle Interesse nicht als das einzig geltende ansehen, die sich den schlichten Sinn für die Schönheit und Mannigfaltigkeit des Lebens und das Mitgefühl für die stumme Kreatur, unsere Brüder «im stillen Busch, in Luft und Wasser», gewahrt haben.
Aus dieser Reaktion heraus ist die Naturschutzbewegung entstanden, die vergangenen Herbst, hier in Bern unter den Auspizien des Bundesrates die Krönung ihrer äusseren Organisation durch Schaffung einer Weltnaturschutzkommission vollzogen hat. Von den Aufgaben und Zielen dieses internationalen Institutes ist hier nicht zu reden. Die exotischen Vogelarten: Kolibris, Paradiesvögel, Aigrettenreiher, die Pelztiere und Wale, deren Ausrottung zunächst zu verhindern das Institut sich vorgesetzt hat, interessieren hauptsächlich von der sentimentalen, allgemein menschlichen Seite aus. Direkt beteiligt ist unser Land an den grossen Verlusten, die unsere Fauna und Flora bereits betroffen haben, teils stark bedrohen. Ausser den vorhin genannten Tieren sind der Luchs und die Wildkatze auf Nimmerwiedersehen aus unsern Wäldern verschwunden. Die Vogelwelt leidet direkt unter unserer Kulturarbeit, unter der Ausrottung der Hecken, der Korrektion unserer Bäche und Flüsse, die sie ihrer Brutstätten beraubt hat. Die Eibe, der schwermütig dunkle Waldbaum, ist zur Seltenheit geworden, und die Zahl der prachtvollen Arven schwindet immer mehr zusammen. Das sinnlose massenhafte Abreissen und Ausreissen der farben-prächtigsten und zierlichsten Blumen, des Edelweiss, der verschiedenen Enzianarten, in unserm Hügellande des Frauenschuhs, des Türkenbundes, der Küchenschelle, der Orchideenarten, unter diesen vor allem der sogenannten Insektenblumen, der Ophrys, hat das Aufsehen der Behörden veranlasst. Eine ganze Reihe von Behörden und Gemeinden haben Schutzverordnungen mit Strafandrohungen erlassen. Die Tendenz ist löblich, die Ausführung mangelhaft und der Erfolg nicht der, der er sein sollte. Davon nur ein Beispiel: Professor HEGI in München erzählt in seiner 1911 veröffentlichten Schrift über die Naturschutzbewegung und den schweizerischen Nationalpark aus dem Kanton Glarus, der seit 1883 eine

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Verordnung zum Schutze des Edelweisses besitzt, folgendes: «Vor wenigen Wochen nahm sich ein Mitglied des Schweizerischen Alpenklubs die Mühe, die vom Glärnisch heimkehrenden Sonntagstouristen nach ihrer Ausbeute zu fragen. Er begegnete an zwei Tagen 51 Touristen, die zusammen nicht weniger als 11,730 Stück Edelweiss zu Tal trugen. Von diesen 51 Edelweissmardern erklärten 14, mehr als. 400 Stück im Rucksack zu haben». Kein Wunder, dass der Verfasser, ein gelehrter Botaniker schweizerischer Herkunft, an der Möglichkeit verzweifelt, dass durch die wohlgemeinten Massnahmen von Behörden und das Einschreiten Privater gegen die Vernichtung heimischer Natur Abhilfe geschaffen werden könne, und dass er zum Schluss kommt, es gebe nur ein Mittel, der allmählichen Zerstörung wirksam entgegenzutreten, «die Schaffung grösserer Naturparke, in denen alles, was ursprünglich einheimisch war, ein dauerndes Asyl bekommt».
Der erste und riesenhafteste Nationalpark ist der Yellowstonepark in den V e r e i n i g t e n S t a a t e n   v o n  N o r d a m e r i k a, 8671 qkm umfassend, halb so gross als das Grossherzogtum Baden. Er ist im Jahre 1872 gegründet worden, als der Schrecken über die drohende Ausrottung des Bison, der wenige Jahre vorher noch in 4½ Millionen Individuen auf den nordamerikanischen Prärien gelebt hatte. den besten Teil der Amerikaner erfasste. Der Park steht unter dem Jagd- und Fischereiverbot und wird von Kavallerieabteilungen bewacht, ist aber den Schaulustigen in der liberalsten Weise geöffnet und bietet mit seinen siedenden Quellen und Geysern und seiner Fauna einen Hauptanziehungspunkt für Einheimische und Fremde. Ausser diesem Park besitzt Amerika noch acht Reservationen, die hauptsächlich zum Schutze besonderer Naturwunder und Naturdenkmäler bestimmt sind und  f ü r  d i e  d e r  S t a a t  jährlich zwölf Millionen Franken aufwendet.
In den europäischen Staaten steckt der Gedanke der Naturparke noch in den Anfängen. Preussen, Bayern, Württemberg und Oesterreich haben staatliche Stellen für Naturpflege und Naturschutz, aber nur kleine Reservationen für engbegrenzte Zwecke, die Erhaltung bestimmter Tier- oder Pflanzenformen. Die grösste in Deutschland bestehende Reservation umfasst ein Stück der Lüneburger Heide und stellt in der glücklichsten Weise die eigenartige Schönheit des norddeutschen Tieflandes dar.  Es hat der Plan bestanden, zwei grosse Reservationen im Hochgebirge und im deutschen Mittelgebirge zu errichten, die eine in Steiermark, die andere im Böhmerwald.
Die schweizerischen Bestrebungen für Naturschutz und Nationalpark sind auf das engste mit dein Namen unseres berühmten Forschungsreisenden Dr. Paul Sarasin verknüpft. Als Präsident der von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft eingesetzten Kommission zur Erhaltung von Naturdenkmälern und prähistorischen Stätten hatte er sich zuerst mit der Reservationsfrage beschäftigt. Er bildete die Naturschutzkommission und den schweizerischen Bund für Naturschutz auf der denkbar breitesten demokratischen Basis. Er nahm, als der Bundesrat, d. h. die Departemente der Eisenbahnen und des Innern, einen von der Naturforschenden Gesellschaft im Jahre 1906 brieflich hingeworfenen Gedanken günstig aufnahmen, mit dem grössten Eifer die Sache in die Hand und führte sie mit rastloser Energie durch, indem er die in Kraft bestehenden Pachtverträge mit den Gemeinden Zernez, Scanfs und Schuls abschloss. Unterstützt hat den vortrefflichen Mann bei allen diesen Schritten mit jugendlicher Begeisterung unser Oberforstinspektor COAZ, der sich Ende dieses Monats, 93 Jahre alt, an Körper und Geist ein Jüngling, aus dem Amte, nicht aus dem Dienste der Wissenschaft und des Vaterlandes zurückzieht. Welches auch der Ausgang der heutigen Beratung sei, die Kommission fühlt sich gedrungen, den beiden genannten Herren für die hervorragende Arbeit, die sie im Dienste einer unter allen Umständen schönen und edlen Sache geleistet haben, den wärmsten Dank auszusprechen.
Aus der Enquete, welche die Naturschutzkommission und die kantonalen Subkomitees über die Frage veranstalteten, welches Gebiet wohl für einen Nationalpark das geeignetste wäre, ist der Beschluss entsprungen, das Ofengebiet auszuwählen. Auf dem Kärtchen, das der ersten Botschaft des Bundesrates vom Dezember 1909 beigegeben ist, finden Sie die Grenzen der Reservation eingezeichnet. Sie umfasst etwa 200 km2 im ganzen. Der vom Inn knieförmig umströmte Gebirgsdistrikt liegt an der Grenze des Ober- und Unterengadins und umschliesst das Einzugsgebiet der sämtlichen rechtsseitigen Zuflüsse von Scanfs bis Schuls, vor allem dasjenige des Spöl mit dem Ofenbach und der Clemgia (Scarltal). Durch den Mangel an grösseren Gletschern und Firnfeldern, sagt HEGI, durch die schroffen, wildzerrissenen und kahlen Bergspitzen und Gräte bekundet der Distrikt die Zugehörigkeit zu den Ostalpen; klimatisch schliesst er sich eng dem Engadin an; er hat wie dieses ein extrem kontinentales Klima mit heissem, trockenem Sommer und überaus strengen Wintertemperaturen. Die untere Grenze des ewigen Schnees und die Waldgrenze sind sehr weit nach oben verschoben, so weit wie nirgends sonst im Schweizerland. Das Gebirge ist Dolomit, am Eingang des Gebietes bei Zernez Urgebirge. Die Pflanzenwelt ist reich und mannigfaltig; sie enthält eine grosse Zahl charakteristischer Arten. Der beherrschende Baum ist die Bergföhre, die auf weite Strecken buschartig als sogenannte Legföhre gewachsen ist; daneben sind fast sämtliche Nadelhölzer der Schweiz vertreten: Fichte, Lärche, Tanne, Wacholder. Prof. SCHRÖTER schliesst

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das Gutachten über den botanischen Wert der Reservation mit folgenden Worten: <Der schweizerische Nationalpark, schon in seinem jetzigen Umfang, noch mehr aber in seiner zukünftigen Totalität, erfüllt alle Bedingungen, um das völlige Gelingen des grossartigen Unternehmens, der unberührten Erhaltung einer natürlichen Lebensgemeinschaft mit zahlreichen seltenen Pflanzen, zu garantieren und wird dadurch der Wissenschaft grosse Dienste leisten.> Fast noch günstiger lautet das zoologische Gutachten des Herrn Prof. ZSCHOKKE in Basel, der sogar der Hoffnung Ausdruck gibt, dass Tierarten, die in historischer Zeit in unserm Land ausgestorben, in das totale Schongebiet wieder einwandern werden, wie es in den grossen amerikanischen Reservationen geschehen ,sei.
Von der allergrössten Bedeutung für die Wahl des Ofengebietes waren praktische Gründe: die Tatsache, dass die Täler zum grössten Teil ganz unbewohnt sind und dass die Weid- und Holznutzung
- die letztere wegen der schlechten Verbindungen - unbedeutend und leicht abzulösen sei. Diesem Umstand und demjenigen, dass sich gerade an dieser Stelle wie kaum an einer andern ein verhältnismässig grosses, zusammenhängendes Reservationsgebiet herstellen lässt, massen die Urheber des Projektes eine Bedeutung bei, welche die unangenehm empfundene peripherische Lage des Parkes übersehen lasse. Die Naturschutzkommission nahm also von der Gemeinde Zernez Val Cluoza, das einstweilige Zentrum des Nationalparkes, Val Tantermozza, das Herr Dr. COAZ in der Kommission als das wildeste Tal der Schweiz, ja vielleicht Europas bezeichnet hat, ferner die Distrikte Praspöl, La Schera, Fuorn und Stavelchod, und sie hat dafür jährlich an Pachtzins 18,200 Franken zu bezahlen. Der Pachtvertrag war zunächst auf 25 Jahre abgeschlossen. Es war der verstorbene Herr Bundesrat SCHOBINGER, der als Departementsvorsteher des Innern eine solche Befristung als durchaus unzulänglich erklärte und verlangte, dass alle Pachtverträge auf 99 Jahre abgeschlossen werden müssten, eine Forderung, auf die einzig die Gemeinde Zernez eingegangen ist, während Schuls und Scanfs auf 25 Jahren beharren.  Die Naturschutzkommission errichtete im Val Cluoza ein Blockhaus und bestellte einen Parkwächter, der mit seiner Familie im Sommer dort wohnt, während er im Winter nach Zernez hinunterzieht. Ausserdem dient das Haus in bescheidenem Masse zur Beherbergung fremder Besucher. Die Naturschutzkommission ist bisher allein für die Pachtzinse, die Bau- und Unterhaltungskosten aufgekommen.  Jene kamen mit Einschluss der Reservationen im Schulser und Scanfser Gebiet auf 25,600 Fr. zu stehen. Für die Ueberwachung der Parkgebiete hat sie die Ausgaben für den Parkwächter in Cluoza und zwei weitere Parkwächter im Scarltal  3) zu bezahlen. Es ist leicht einzusehen, dass solche Ausgaben für die Schultern einer Privatgesellschaft zu schwer sind. Durch Eingabe vom 1. Februar 1911 richtet daher die Naturschutzkommission an den Bundesrat das Gesuch, er möge ihr ,einen jährlichen Beitrag von 30,000 Fr. an die Kosten des zum Teil bereits bestehenden Nationalparkes gewähren. Mit Botschaft vom 9. Dezember 1912 beantragt der Bundesrat, diesem Gesuche zu entsprechen, in dem Sinne, dass der Bund zunächst nur die der Gemeinde Zernez zu leistende Pachtsumme von 18,200 Fr. übernehme, dass er aber bereit sei, seinen Beitrag auf 30,000 Fr. zu steigern, wenn es der Naturschutzkommission gelinge, mit den Gemeinden Schuls, Scanfs, Cierfs und Tarasp Pachtverträge auf 99 Jahre abzuschliessen. In diesem Stadium gelangte die Angelegenheit an Ihre Kommission.
Nun aber die Tätigkeit der Kommission. Ihre Frucht liegt Ihnen in den abgeänderten Verträgen und der Nachtragsbotschaft vor. Die Kommission war einhellig für das Eintreten; nur ein Mitglied äusserte Bedenken, die sich, wie ich vernehme, bis heute zu einem Antrag auf Nichteintreten verdichtet haben. Damals, unter dem frischen Eindruck der unter so ungünstigen Umständen unternommenen Begehung, äusserten sich einzelne Mitglieder mit wahrer Begeisterung über die Grossartigkeit der Szenerie und des Gedankens selbst. Ein schöneres Geschenk könne sich die Eidgenossenschaft nicht machen als mit der Schaffung oder Uebernahme des Nationalparks. Dass eine bessere Lage nicht gefunden werden könne als diese menschenleeren Täler und grimmigen Schluchten, die abwechseln mit vereinzelten wunderschönen Alpen, war die übereinstimmende Meinung namentlich der bei weitem stärkeren Gruppe, welche die grosse Tour mitgemacht hatte.
Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen die juristische Form der mit Zernez einerseits, mit der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft und der Schweizerischen Naturschutzkommission anderseits abgeschlossenen Verträge. Man fand, die rechtlichen Verhältnisse der beiden letztem  Körperschaften seien zu unsicher und zu wenig abgeklärt, als dass mit einiger Sicherheit mit ihnen Rechtsgeschäfte abgeschlossen werden könnten. Sodann rief ein auf bestimmte Zeit abgeschlossener Pachtvertrag schwere Bedenken wach. Wenn der Vertrag abgelaufen sei, nach hundert Jahren, hätten die Gegenkontrahenten der Naturschutzkommission, indirekt des Bundes, das Recht, das Land samt allen darauf erstellten Weganlagen und Installationen einfach an sich zu ziehen, und es lasse sich voraus

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sehen, dass sie dann an den doch beabsichtigten und durchaus wünschenswerten, ja unerlässlichen Weiterbestand des Parkes oneröse Forderungen finanzieller Natur knüpfen würden. Herr Oberst BÜHLMANN, unser Mitglied, das sich dieser ganzen Sache mit unermüdlichem Eifer angenommen hat, entwickelte ganz besonders diese Gesichtspunkte und empfahl dringend, das Pachtverhältnis durch einen dinglichen Dienstbarkeitsvertrag zu ersetzen. Von anderer Seite wurden Bedenken über die finanziellen Konsequenzen für den Bund geäussert. Wer bürge dafür, dass der Bund für Naturschutz stets die nötigen Mittel besitze, um seiner schweren Bewachungs- und Unterhaltungspflicht zu genügen? Sei er einmal nicht mehr leistungsfähig, so müsse die Eidgenossenschaft entweder das ganze kostspielige Unternehmen fallen lassen oder als Selbstzahler in die Lücke treten und ausser den Pachtzinsen auch noch die Unterhaltungs- und Bewachungskosten übernehmen, zu denen eventuell noch grosse W i 1 d s c h a d e n v e r g ü t u n g e n hinzukämen. Die Höhe der Pachtzinse stehe ohnehin in keinem richtigen Verhältnis zu dem Werte der durch sie zu entschädigenden Nutzungen.
Als diese Bedenken dem Bundesrate zur Kenntnis gebracht wurden, trat er sofort nach allen Seiten in neue Unterhandlungen ein, um den ganzen Komplex der Fragen gründlich abzuklären. Unter wirksamer Mithilfe des Herrn BÜHLMANN wurde der Vertrag mit der Gemeinde Zernez aus einem Pachtvertrag in einen Dienstbarkeitsvertrag umgewandelt. Die Gemeinde Zernez verzichtete auf ihr Kündigungsrecht und gab sich mit der Zusicherung zufrieden, wenn in hundert Jahren der Bund vom Vertrag nicht zurücktrete, so solle die jährliche Entschädigungssumme nach den dannzumal bestehenden Verhältnissen neu vereinbart, eventuell vom Bundesgericht festgesetzt werden. Damit ist volle Garantie gegeben, dass die Fortdauer des Nationalparks allein vom Ermessen der Eidgenossenschaft abhängt. Um auch die letzte Besorgnis zu zerstreuen, dass der Bund sich für eine allzulange Dauer binde, während niemand voraussehen könne, wie schon die kommende Generation über die Sache urteile, will die Kommission durch einen Zusatz zu Art. 3 des Bundesbeschlusses den Bundesrat beauftragen, den Vertrag mit Zernez nur unter der Bedingung endgültig abzuschliessen, dass dem Bunde das Recht eingeräumt werde, nach 25 Jahren einseitig von der Abmachung zurückzutreten. Nichterfüllung der vom Naturschutzbund übernommenen Verpflichtungen soll zudem den Bund zu sofortigem Rücktritt vom Vertrag auf Jahresschluss berechtigen. Diese letztere Bestimmung scheint fast übertrieben, nachdem sowohl die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft als der Naturschutzbund das Menschenmögliche getan haben, um den Wünschen der Eidgenossenschaft entgegenzukommen. Der Naturschutzbund hat sich als Verein konstituiert und sich so die gewünschte rechtliche Grundlage gegeben. Er willigt darein, dass die Aufsicht über den Nationalpark einer besonderen Kommission übertragen werde, in die der Bundesrat zwei von fünf Mitgliedern delegiert. Ausserdem steht ihm die Wahl des Präsidenten zu, und es ist ihm weiter übergeben die Oberaufsicht über den Nationalpark und der endgültige Entscheid über alle ihn betreffenden Angelegenheiten. Also kann der Bundesrat gegen die Beschlüsse der Nationalparkkommission jederzeit sein Veto einlegen. Der Naturschutzbund übernimmt die Sorge für die Bewachung und für die Erstellung von Fusswegen und Unterkunftsräumen, die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft die wissenschaftliche Verwertung ihrer Ergebnisse. Durch ein Schreiben vom 6. März an das eidgenössische Departement des Innern erklärt der Naturschutzbund über die finanzielle Frage ausdrücklich, nach den Vertragsbestimmungen habe die Eidgenossenschaft einzig und allein die jährliche Entschädigung an die Gemeinden im Betrage von Fr. 30,000.- zu tragen; alle andern Unkosten für den Nationalpark seien dagegen ohne Ausnahme vom Schweizerischen Bund für Naturschutz zu tragen. In demselben Schreiben ist die verbindliche Erklärung enthalten, dass der Bund für Naturschutz auch für allfällige Wildschadenvergütungen, die mit dem Bestehen des Nationalparkes in Verbindung gebracht werden, an Stelle der Eidgenossenschaft aufzukommen hat, sofern hiefür überhaupt eine gesetzliche Verpflichtung besteht (was der Naturschutzbund, gestützt auf seine Kenntnisse der bündnerischen Gesetzgebung, bestreitet). Um seine finanzielle Leistungsfähigkeit darzutun, beruft sich der Naturschutzbund übrigens darauf, dass er 25,000 Mitglieder zähle, die jährlich an Beiträgen Fr. 27,000.- aufbringen. Ausserdem besitzt die Gesellschaft einen Kapitalfonds von Fr. 47,500.  Sie hegt die Zuversicht, dass dieser Fonds in 10-20 Jahren einen Beitrag erreicht haben wird, dessen Zinse hinreichen, um sämtliche Kosten für den Nationalpark zu decken. Nach § 10 seiner Statuten darf der Verein sich nicht auflösen, solange der Nationalpark besteht; nach § 7 müssen seine sämtlichen finanziellen Mittel in erster Linie zur Deckung der Kosten des Nationalparks im Engadin verwendet werden. Wir glauben, das dürfte genügen, um das besorgteste Gemüt zu beruhigen.
Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass der Kanton Graubünden durch die zuständigen Behörden, den Grossen und den Kleinen Rat, im letzten November das ganze Nationalparkgebiet mit einem absoluten Jagd- und Fischereiverbot belegt hat für so lange als die Reservation besteht. Die Höhe

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des an Zernez zu entrichtenden Pachtzinses hat der Bundesrat durch zwei Experten, unser gegenwärtiges Mitglied Herrn LIECHTI und unsern frühern Kollegen Herrn Regierungsrat SCHMID von Luzern, prüfen lassen. Sie finden das Ergebnis ihrer Schätzung auf Seite 3 der Nachtragsbotschaft. Das Gutachten läuft darauf hinaus, dass die Entschädigung gut bemessen sei, aber mit Rücksicht auf möglicherweise kommende Veränderungen, Einführung der Revierjagd, Bau der Ofenbergbahn, nicht zu hoch genannt werden könne.
So erscheint nach der formellen Seite hin heute die Seite wohl geordnet und die Frage, die Sie zu entscheiden haben werden, ist lediglich eine solche grundsätzlicher Natur: Wollen wir für Tiere und Pflanzen eine solche Freistätte schaffen, aus der jeder menschliche Einfluss soweit immer möglich ausgeschlossen ist, ein Revier, in dem auf 100 Jahre jede wirtschaftliche Benutzung, Holzbetrieb, Weidgang, Jagd, aufhört, in dem keine Axt und kein Schuss mehr erklingt, kein Haustier mehr weiden darf? Viele erklären den Gedanken für utopisch, andere malen sich die fürchterlichsten Konsequenzen aus, als ob der gesunde Menschenverstand plötzlich aufhören würde, wirksam zu sein, als ob er zuallererst unserm Bundesrat ausgehen würde, in dessen Belieben die Verträge die Oberaufsicht über den Park und die endgültigen Entscheidungen gelegt haben. Da sagt uns einer: «Gebt nur acht, wenn erst einmal Meister Petz euer Asyl ausgeschnobert hat, und er kommt über die Grenze und lässt sich mit Kind und Kegel im Parke häuslich nieder! Und wenn seiner Sippe immer mehr werden, und sie torkeln im Gefühl ihrer Sicherheit über die Parkgrenze hinaus und fallen in die Ziegen- und Schafställe der Engadinerdörfer ein, dann sollt ihr hören, was die Bauern und was das Schweizervolk von eurem Parke sagen.» Du lieber Gott, wenn die Parkbären, ich bekenne mich zu dem ruchlosen Wunsche, dass einmal etliche sich im Val Tantermozza häuslich niederlassen - so unvorsichtig sind, in die Dörfer und auf die Alpen zu Visite zu gehen, so waren die Engadiner Jäger auch nie als faul verschrien. Wer den kürzeren gezogen hat, der Bündner Jägersmann oder der alte Meister Braun, das weiss man. Und sollte einmal die Sicherheit vorsichtiger Parkbesucher durch grosse Raubtiere gefährdet sein, nun gut, so wird die Parkkommission oder es wird der Bundesrat einen Abschuss veranstalten. Man soll die Haut des Bären nicht verkaufen, ehe er erlegt ist, man soll aber den Bären auch nicht totschiessen, ehe einer gesehen worden.
Nach den Erzählungen des Parkwächters haben die Gemsen im Val Cluoza sich seit der Gründung der Reservation stark vermehrt. Rehe kommen bis dicht zum Blockhaus, das schöne Federwild nistet ruhig im Frieden der Reservation. Wenn erst der Steinadler und seine königlichen Verwandten die richtige Witterung bekommen - die Herren Jäger mögen lachen, wenn der Ausdruck nicht weidmännisch ist -. so werden ihre Horste im Schutzgebiete nicht ausbleiben und die Vögel sind dann sicher vor der tolldreisten Kühnheit und Ueberlegungslosigkeit der Jungburschen, die ihnen fast überall, wo sie sich zeigen, heutzutage die Jungen wegrauben.
Für die wissenschaftliche Bedeutung des Parkes habe ich das Gutachten Dr. SCHRÖTERS zitiert. Es sei mir gestattet, noch zwei Sätze aus dem zoologischen Gutachten des Herrn Prof. Dr. ZSCHOKKE anzuführen: «Bei den tiefgreifenden Veränderungen, die unsere Fauna unausgesetzt durch die verschiedenartigsten Eingriffe des Menschen erfährt, ist es für die Faunistik und ganz besonders für die ,auf ihr sich aufbauende Tiergeographie von der allergrössten Wichtigkeit, dass ein Stück der Tierwelt so erhalten bleibe, wie es sich seit der grossen diluvialen Vergletscherung unter dem Einflusse der natürlichen äussern Bedingungen, besonders klimatischer und geologischer Art, herausgebildet hat. Nur anhand eines solchen Materials werden wir imstande sein, die Geschichte der schweizerischen Tierwelt bis zu dem Moment rückwärts zu verfolgen, da die mächtigen, das tierische Leben fast ganz vernichtenden Gletscher endlich den Rückzug antraten. Ein solches unverändertes Bild der postglazial entstandenen Fauna kann uns ein gegen menschliche Tätigkeit vollständig geschützter Nationalpark bieten.» Herr ZSCHOKKE führt sodann im weiteren aus, welchen Gewinn die schweizerischen Zoologen für die Erforschung der Alpenfauna und ihre Systematik, für die Tiergeographie und Morphologie der Tiere ziehen würden. Doch wer wollte hieran zweifeln, der den Bienenfleiss unserer Naturgelehrten und ihre in der neuem  Zeit so erfreulich entwickelte Kunst der Darstellung auch nur von ferne kennt?
höher als die wissenschaftliche steht mir die pädagogisch-ethische S e i t e  d e r  n e u e n  E i n r i c h t u n g. Schon der Gedanke erfüllt mich mit Freude, dass einmal Vater, Mutter und Kind auf einer stundenlangen Exkursion sich enthalten, Blumen abzureissen und wegzuwerfen, dass das Edelweiss auf der Alp Murtèr und im Cluoza aufgehen, blühen und welken kann, ohne dass ein Tourist von der Art des geschilderten Glärnischjünglings seinen Rucksack mit dem reinen Gewächs vollstopfen kann. Und dann, wer wollte den armen Tieren nicht die Freistatt gönnen. Man braucht kein Feind der Jägerei und noch weniger der Jäger zu sein und mag aus persönlicher Erfahrung und Bekanntschaft ganz wohl wissen, dass es gerade unter den Jägern die feinsten Tierkenner, aber auch herzensgute Tierfreunde gibt, und trotzdem tut einem der Gedanke in der Seele wohl, dass auf irgendeinem Fleck des Vaterlandes der Flintenschuss des Jägers das Wild nicht aufscheucht. Wem drängte nicht der Gedanke an die Schaffung eines Tierasyls im höchsten Hochgebirge die Schillerschen Verse auf die Zunge:

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Plötzlich aus der Felsenspalte
Tritt der Geist, der bergesalte,
Und mit seinen Götterhänden
Schützt er das gequälte Tier:
,,Musst du Tod und Jammer senden,“
Ruft er, „bis hinauf zu mir?
Raum für alle hat die Erde,
Was verfolgst du meine Herde?“

Wir wissen wohl, man wird uns mit dem Hinweis darauf antworten, dass ja in dieser unbeaufsichtigten und allen ungezügelten tierischen Instinkten vollständig preisgegebenen Natur der Kampf der Individuen nur um so erbarmungsloser und grausamer geführt werde, und dass der sichere Schuss des Weidmanns dem Wild ein sanfteres Ende verbürge als das Gebiss oder die Kralle eines Raubtieres. Aber dann ist wenigstens der Mensch, der grosse Schlächter, nicht dabei, und Tatsache bleibt es ja doch, dass erst sein Erscheinen die Tierwelt dezimiert und ganze Arten zum Aussterben gebracht hat. Der edle Weidmann aber, der mit kundigem Auge dereinst die Waldungen des Nationalparks durchforscht, wird sich zuerst des frohen, freien und reichen Tierlebens freuen, das, wie wir erwarten, hier sich entwickelt. Und nun noch ein letztes Wort. Der Naturschutz ist eine Abzweigung der Heimatschutzvereinigung und er ist bis jetzt in inniger Verbindung mit dem Stamme geblieben, der ihn als Schoss getrieben hat. Möge es so bleiben, möge das Bild, das uns der Nationalpark verspricht, wenn unsere Erfahrungen uns nicht trügen, einen neuen Zug beifügen zu dem, was ein welscher Prophet des Heimatschutzes so schön genannt hat: le visage aimé de la patrie, das geliebte Antlitz des Vaterlandes. Ich habe geschlossen und empfehle Ihnen Eintreten auf den Bundesbeschluss.»
Mit diesen trefflichen Worten leitete der Präsident der nationalrätlichen Kommission, Dr. BISSEGGER, am 25. März 1914 im Nationalrat die Debatte über den zu schaffenden schweizerischen Nationalpark ein. Die eindrucksvolle, von tiefem Verständnis und echter Begeisterung getragene Rede durfte um so eher auf Erfolg rechnen, als dem Gedanken des Naturschutzes bereits in einer unser ganzes Land ehrenden Weise durch Bundesrat Louis FORRER vorgearbeitet war, der ein halbes Jahr zuvor, im November 1913, die erste internationale Konferenz für Weltnaturschutz mit grosser Umsicht und seltenem Geschick leitete. Seinem grossen politischen Einfluss ist es nicht zuletzt zuzuschreiben, dass sich mancher offene und geheime Widerstand gegen die Gründung unseres Parkes in der Bundesversammlung legte.
Nach lebhafter Rede und Gegenrede, wobei es selbst an komischen Zwischenfällen nicht fehlte, kam der folgende denkwürdige B u n d e s b e s c h l u s s  zustande: ...

Fussnoten:
(S.4)  Vergl. den Abschnitt über die ausserschweizerischen alpinen Reservationen. (D. Verf.)
(S.5, 1)  Scanfs hat für seinen Anteil im Jahre 1918 einen Dienstbarkeitsvertrag mit der Eidgenossenschaft auf 99 Jahre abgeschlossen, Schuls hingegen konnte sich leider bis heute nicht dazu entschliessen.
(S.5, 2)  d. h. der Naturschutzbund. (D. Verf.)
(S.5, 3)   Für einen Parkwächter in Scarl und einen in der Abteilung Scanfs.
(S.6, 1)   Ende 1926 betrug dieser Garantiefonds, Fr. 330,913.80. Die Mitgliederbeiträge im gleichen Jahre Fr. 64,663.-.

Kommentar:
Weiter geht es mit Geographie/Geologie, mit Berücksichtigung der Eiszeit, der Botanik u.a. mit Flüeblüemli,- Fichten, Arven, Lärchen etc..
Die Aufnahme der Collembolenfauna war 1924 bereits abgeschlossen. Es wurde zwischen einer Forellenpopulation des Inn und der Spöl unterschieden- und auf Seite 30 findet sich eine interessante Fussnote:
Die wissenschaftliche Erforschung des Nationalparkes kann einstweilen nur schrittweise durchgeführt werden, weil die zur Verfügung stehenden, grösstenteils vom Schweizerischen Bund für Naturschutz zu liefernden Mittel sparsam verwendet werden müssen. Aus diesem Grund harrt manche Arbeit schon seit Jahren der Veröffentlichung. ...
 
 

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