Neujahrsblatt der NGZH Nr. 132 auf das Jahr 1930; 79S. mit 53 Fig. und Stoffmustern (Format des Hefts: 21.2 x 29.1 cm)
Die Kunstseide
von Prof. Dr. Hans Ed. Fierz-David mit H.Schuster und K.Risch

Neujahrsblatt

herausgegeben von der

Naturforschenden Gesellschaft in Zürich
auf das Jahr 1930.
132. Stück.

Die Kunstseide

von 

Dr.Hans Ed. Fierz-David
Professor an der Eidgenössigen Technischen Hochschule

unter Mitwirkung der Herren
Dr.H.Schuster (Basel) und Dr.K.Risch (St.Gallen)

mit 53 Bildern im Text 
und 1 Tafel
 

Beer & Cie. in Zürich

 

German only Vollversion als PDF
Spinntopf Verfahren, Spinnen von Viskose Abb. 27:
Schematische Darstellung des 
Spinntopfverfahrens

 

Inhaltsübersicht
 
    Seite     Seite
Zellulose 5   Andere Verwendung der Viskose 30
  Kristallite, Faserstruktur
Streckspinnen
5
6
  Kunstrosshaar, Kunstborsten und Zellophan
Technische Details über Viskose-Kunstseide
30
30-36
  Baumwollzellulose 6 Kupferoxyd - Ammoniakseide (Cuprat-,  
  Zellstoff, Sulfitzellstoff, Natronzellstoff,  6   Bembergseide) 36
  Sulfatzellstoff
a, b, g-Zellulose
Formel der Zellulose
Chemische Eigenschaften der Zellulose
Löslichkeit der Zellulose in Schweizer-
6
6-7
7
7-10
  Geschichte
Ausgangsmaterial
Lösen im Schweizer-Reagens
Spinnen und dazu gehörende Apparate
Eigenschaften
36
37
37
38-39
  Reagens 7 Azetatseide 40
  Hydrolyse der Zellulose
Derivate der Zellulose (Nitrat, Xanthoge-
nat [Viskose], Azetat)
Reinigung der Zellulose und Preise
8

9-11
11

  Geschichte
Ausgangsmaterial, Essigsäure, Essigsäure-
anhydrid, Azeton, Baumwolle
Herstellung des Triazetates und Verseifung
40

40-42

Spinnen der Kunstseide 12   zum 2,5-Azetat 42
  Spinndüsen und Spinnpumpen
Druckakkumulator
12-14
13
  Lösen und Spinnen.
Eigenschaften
42-44
44
Chardonnetseide 14 Benennung, Verwendungsgebiete,  
  Geschichte 
Ausgangsmaterial
14-15
16
  Produktionszahlen
Andere Arten der Kunstseide.
45-47
46
  Nitrierung 16 Allgemeines über Kunstseiden und andere  
  Nitriersäure
Technische Nitrierung und Untersuchg.
der Nitrozellulose
Lösg. und Filtration der Kollodiumlösg. 
Lösungskessel und Filterpressen
Spinnen der Kollodiumlösung
Wiedergewinnung des Lösungsmittels
(Aether, Alkohol)
Denitrierung des Fadens
Aufarbeitung des Denitrierbades
16

16-17
17
18-19
20

20-21
21-22
22

  Textilien
Unterscheidung der Kunstseiden
Mikrophotographien von Kunst- und Natur-
seide
Titer (Feinheiten der Kunstseide)
Reissfestigkeiten
Elastizitäten.
Feuchtigkeitsgehalte
Tabelle über die Produktion der Kunstseide
Gesamtproduktion der verschiedenen 
47-55
47, 50

48-50
50-51
52,53, 74, 75
53, 74
53 - 54
54, 56, 73
 

Viskose-Kunstseide 23   Kunstseiden 55 
  Geschichte und Entwicklung dieser Industrie
Herstellung der Alkalizellulose
Zusammensetzung
Reifen
Vereinigung mit Schwefelkohlenstoff (Sulfidieren)
Bildung des Xanthogenates
Lösen und Reifen
Spinnen
Spinnapparate
Fällbad
Zusammensetzung

23
24
25
26

26
27
27
27
27-29
29
29

  Baumwollernten
Tabellarische Übersicht der am 1. Juli 1929
bestehenden Kunstseidefabriken, Kapitalien,
Produktionsmöglichkeiten, Nationale und 
internationale Beziehungen
Kapitalanlagen in der Kunstseidenind.
Literaturnachweis
Mikroskopische und mikrophotographische
   Einrichtung
Herstellung von Querschnitten
Fabriken für Apparate der Kunstseidenindustrie
Graphische Tabellen über Produktionen
   und mechanische Eigenschaften
55
 

56-67
68-69
69

70
70-71
72

73-77

Lilienfeld-Viskoseseide 30      
  Herstellung und Eigenschaften 30      

Um einen Einblick in dieses Neujahrsblatt zu ermöglichen, folgen die Seiten 11 bis 17, allerdings ohne Bilder:

11
Reinigung der Zellulose.
Im Prinzip ist es gleichgültig, ob man von Zellstoff, oder von Baumwoll-Linters ausgeht. In jedem Falle muss die Zellulose sorgfältig gereinigt und gebleicht werden, auch wenn zum Schlusse der Kunstseidenfabrikation eine Schlussbleiche gemacht wird. Meist beziehen die Kunstseidenfabriken fertig gebleichten Zellstoff, oder Baumwoll-Linters, so dass diese Operation ganz kurz behandelt werden kann. Die Reinigung der Zellulose erfolgt nach den gleichen Methoden, die in der Baumwollindustrie üblich sind, nämlich Kochen mit Lauge, unter Umständen unter geringem Druck, d. h. bei ca. 115° C im ,,Beuchkessel". Als Lauge verwendet man ausschliesslich Natronlauge, und zwar wie bei der Baumwollbleiche solche von 1-2% Ätznatrongehalt.
Nach dem Kochen im Kessel wird die Zellulose gewaschen, meistens indem man zuerst den Zellulosebrei in Zentrifugen von der überschüssigen Lauge so gut es geht befreit, worauf man ihn in grossen Portionen (1000-5000 kg auf einmal) im sogenannten "Holländer" mit Natriumhypochlorit und darauf mit verdünnter Mineralsäure behandelt. Dazu werden je nach dem momentanen Preis Salzsäure oder Schwefelsäure verwendet. Die Menge des "aktiven Chlores" kann je nach der Reinheit des Ausgangsmateriales zwischen 0,5-1,5 % schwanken. Nach dem Chloren wird die Zellulose gründlich im Holländer bearbeitet, dann filtriert und ausgewaschen. Darauf bringt man sie auf Papiermaschinen in eine praktische Form, das heisst dicke löschblattartige Kartons, die getrocknet werden. Die Baumwolle wird meist getrocknet und darauf in Ballen gepresst, wie wenn es sich um gewöhnliche Baumwolle handelte.
Wenn man die Baumwolle auf Chardonnetseide verarbeitet, muss sie in Lufttrockenöfen sorgfältig auf einen Wassergehalt von 1 % oder wenn möglich 0,5 % gebracht werden. Auch muss bei der Chardonnetseide, wo die lose Baumwolle mit einer Mischung von Salpeter- und Schwefelsäure behandelt wird, unbedingt darauf gehalten werden, dass nur ganz gut gebleichte Baumwolle verwendet werde, weil sonst die Nitrierung leicht ,,durchbrennen" kann.
Bei der Darstellung der Chardonnetseide und der Azetatseide verwendet man bis heute ausschliesslich Baumwollzellulose, dagegen bei der Viskoseseide meist Zellstoff. Bei dem Kupferoxydammoniakverfahren ist es besser, sich der Baumwolle zu bedienen, weil die Kunstseide dadurch fester wird. Die Preise von Zellstoff und Baumwolle im fertig gebleichten Zustande verhalten sich ungefähr wie 1: 2. Die Reinigung der Baumwolle kostet dabei mehr als das Doppelte als die rohen Linters. Es ist schwer einen genauen Preis für Linters und Zellstoff anzugeben. Zellstoff dürfte heute ungefähr 2 Fr. kosten gegen 4 Fr. der reinen gebleichten Baumwolle. Es ist daher klar, dass jene Verfahren, welche Zellstoff verwenden können, bei den gegenwärtigen gedrückten Kunstseidepreisen einen grossen Vorsprung haben.
Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete der Azetatseide erlauben es, aus Zellstoff ein Material zu erzeugen, welches gegenüber jenem aus Baumwolle nur ungefähr 10 % geringere Festigkeit aufweist. Die Daten über Kupferoxydammoniakseide die mir zur Verfügung stehen, erlauben mir keine sicheren Schlüsse in bezug auf die Verwendung der beiden Zellulosearten zu ziehen. Die Nueraseide kann ohne weiteres aus Zellstoff hergestellt werden, wie natürlich auch die Viskoseseide, eine Tatsache, welche den billigen Preis dieser verbreitetsten Kunstseide erklärt.
12
Spinnen der Kunstseide.
Obschon es eigentlich nicht folgerichtig ist, zuerst das "Spinnen" der Kunstseide zu behandeln, möchte ich dennoch diese Operation wenigstens teilweise zuerst besprechen, weil sie in verschiedenen Varianten bei allen vier Kunstseiden in fast identischer Weise vorgenommen wird. Dagegen ist das Lösen der Zellulose eine derartig komplizierte und individuelle Sache, dass es nötig sein wird, diese Methoden jeweils ausführlich an ihrem Orte zu besprechen.
Schon der Ausdruck "Spinnen" ist irreführend, weil man gewöhnlich in der Technik unter Spinnen jene Operation versteht, bei welcher längere oder kürzere Fäden mittels des Spinnprozesses zu langen Fäden zusammengedreht werden. Bei der Kunstseide ist diese Arbeit wohl mit bereits vorhandenem Material möglich und wird tatsächlich in steigendem Masse ausgeübt (Stapelfaser), aber die erste und notwendige Bedingung zur Herstellung eines Fadens bildet das Auspressen eines feinen Flüssigkeitsstrahles der Zelluloselösung in eine Umgebung, welche die gelöste Zellulose zum Erstarren bringt, wodurch je nach der Feinheit der Ausspritzöffnung ein mehr oder weniger dünner Faden entsteht.
Es sind verschiedene Methoden des Spinnens der Zellulose-Lösungen bekannt, und zwar wird für jede Art der Kunstseide und für jede besondere Marke je nach Bedarf die eine oder die andere Methode gebraucht.
Am einfachsten gestaltet sich das Spinnen der Azetatseide. Hier werden Lösungen von Zelluloseazetat (22-26 %ige) in Azeton direkt in die Luft gespritzt. Es muss dabei Sorge getragen werden, dass sozusagen alles Lösungsmittel vor dem Aufwickeln des Fadens verdunstet ist, weil dieser sonst zusammenklebt- Es ist auch nicht möglich, den Faden , - wie das z.T. bei der Chardonnetseide geschieht, in Wasser zu spritzen, weil der Faden sonst matt und unansehnlich würde.
Viel komplizierter gestaltet sich das Spinnen bei den beiden andern Kunstseiden, nämlich der Kupferoxyd-Ammoniakseide und der Viskoseseide. Hier wird die Lösung der Zellulose in ein Fällbad gespritzt und zwar bei Temperaturen zwischen 0° - 60° und bei Säurekonzentrationen zwischen 0% - 60%. Dabei wird die Düse in die Fällflüssigkeit (Fällbad) eingetaucht und der erhaltene Faden durch besondere Vorrichtungen aufgewickelt, unter Umständen sogar direkt verzwirnt (Spinntopfverfahren, 5. d.). Näheres findet man weiter hinten.
Als Spinndüsen, so nennt man die Ausspritzeinrichtungen, verwendet man entweder Röhrchen, die nur ein Loch haben, welches genau kontrolliert werden muss, oder sozusagen ausschliesslich Düsen, die viele feine Offnungen besitzen, so dass man in der Lage ist, ein eigentliches Faserbündel zu erzeugen. Beistehende Düsen werden heute allgemein verwendet (Abb. 5 und 6). Man macht sie bei der Azetatseide, der Kupferoxydammoniakseide und der Chardonnetseide nur aus Glas, wogegen bei der Viskose und der Lilienfeldseide noch immer das teure Platin oder Gold gebraucht wird. Da bei den Verfahren, welche das Streckspinnverfahren erlauben, die Löcher der Düsen weiter sein können, bietet das Bohren der Düsen keinerlei Schwierigkeiten.
Die Kontrolle der Feinheit der Öffnungen geschieht in eleganter Weise dadurch, dass man Leuchtgas bei bekanntem Druck hindurchleitet und die Flammenhöhe beobachtet. Die Abbildung erläutert eine solche Probe ohne weitere Erklärung (Abb. 7).

13

Grosse Schwierigkeiten bereitet das tadellose Filtrieren der Spinnlösungen, weil nur bei absolut glasklaren Lösungen die Spinnfiüssigkeit gleichinässig durch die Kapillaren ausfiiesst. Man ist daher genötigt, die Flüssigkeiten, die zum Verspinnen kommen, peinlich zu filtrieren. Dies geschieht zu verschiedenen Malen während der Bereitung der Zelluloselösungen (siehe daselbst), und im letzten Augenblicke wird die austretende Lösung durch ein winziges Filter getrieben, welches sozusagen zu der Spinndüse gehört. Sollte je eine Düse ausgeschaltet werden müssen, so geschieht dies einfach durch Schliessen des entsprechenden Düsenhahnens. Die Abbildungen zeigen die verschiedenen Details einer Spinudüse auf das deutlichste (siehe Abbildung 5 und (3). Da auf eine vollkommene Gleichmässigkeit der Dicke oder, wie man sagt, der Deniers in steigendem Masse Gewicht gelegt wird, hat man Einrichtungen ersonnen, um eine ganz bestimmte Menge Spinnfiüssigkeit in einem gegebenen Zeitraume durch die Düsen zu pressen, ohne dass die Viskosität (Dickfiüssigkeit) eine bemerkenswerte Rolle spielen würde. Man kann die verwendeten Apparate, die man allgemein als Spinnpumpen bezeichnet, in zwei Klassen einteilen. Jene, bei denen die Flüssigkeit durch mehrere konzentrische Kolben zu den Düsen geleitet wird, und jene, welche die zu spinnende Flüssigkeit durch Zahnräder, zwischen denen die Flüssigkeit eingeschlossen ist, weiterbewegt wird. Beide Systeme werden verwendet. Dagegen kann man bei der Chardonnetseide keine Pumpen verwenden und, soviel mir bekannt ist, nur unter bestimmten Bedingungen bei der Azetatseide. In diesen beiden Fällen muss man den Druck der Spinnflüssigkeit dadurch regulieren, dass man grosse Mengen von Spinnfiüssigkeit von bekannter Viskosität unter gemessenen Druck bringt. Es geschieht das mittels sogenannter hydraulischer Akkumulatoren, wie sie bei der Besprechung der Chardonnetseide beschrieben und auf nebenstehender Abbildung veranschaulicht sind. Die beigegebenen Bilder. der beiden Pumpensysteme auf Seite 14 erläutern sich von selbst.

Die Chardonnetseide.
Die Geschichte der Chardonnetseide ist ein äusserst interessanter Beleg dafür, wie eine Erfindung während vieler Jahre ins Auge gefasst wurde, wie sie sich plötzlich zu unerwarteter Grösse und finanzieller Bedeutung entwickelt und wie sie verhältnismässig rasch von andern billigeren und z.T. besseren Verfahren verdrängt wird. Sie ist aber auch ein Beweis dafür, dass eine, wenn auch veraltete Industrie befruchtend auf das ganze Gebiet wirken kann und wie der ursprüngliche Erfinder es erleben muss, dass er von glücklicheren Konkurrenten überflügelt wird.
Der erste Chemiker, welcher den Gedanken hatte, dass es möglich sein sollte, den glänzenden Faden des Maulbeerspinners (Bombix mori) auf künstlichem Wege nachzuahmen, war der berühmte französische Chemiker René-Antoine Ferchault de Réaumur (geboren 1683, gestorben 1757). Wohl durch seine scharfsinnigen Beobachtungen über die Bildung der festen Schalen vieler Tiere angeregt, kam er auf die Idee, durch Verfestigung von Gelatinefäden eine künstliche Faser zu erzeugen, welche der Seidenfaser ähnlich wäre. Dieser im Jahre 1734 geäusserte Geistesblitz konnte aber keinerlei praktische Folgen haben, weil Chemie und Technik dem Erfinder noch keine Mittel in die Hand gaben, um ein derartiges Ziel zu erreichen.
Die französische Revolution, das erste Kaiserreich und die grosse industrielle Entwicklung der nachfolgenden 40 Jahre liessen dieses Problem wieder auftauchen. Im Jahre 1846 wurde das Material entdeckt, welches den Grund zu der heutigen Industrie der Kunstseide legen sollte, nämlich das

15
alkohol-ätherlösliche Zellulosenitrat, welches man häufig zu Unrecht als Nitrozellulose bezeichnet.
Diese interessante Verbindung - man nennt sie auch Kollodiumwolle - ist von dem Chemiker Christian Friedrich Schönbein (geb. 1799, gest. 1865, Professor in Basel von 1828 bis zu seinem Tode) entdeckt worden3).
Wir sehen dann schon im Jahre 1855 den Lausanner AUDEMARS sich des neuen Materials bemächtigen. Er schlug in seinem englischen Patente Nr.253 vom Jahre 1855 vor, den Bast von Maulbeerbäumen nach der Methode von SCHÖNBEIN zu nitrieren, darauf aus dem Produkt, welches in einem Gemische von Alkohol und Äther löslich ist, eine Lösung herzustellen und durch Eintauchen einer spitzen Nadel in die honigdicke Flüssigkeit Fäden auszuziehen. Diese im Prinzipe wohl richtige Erfindung konnte keinen Erfolg haben, weil die technische Ausführung doch gar zu primitiv war. Immerhin verdient es festgehalten zu werden, dass schon 35 Jahre vor der praktischen Lösung der technischen Schwierigkeiten ein erster Gedanke auftauchte, welcher einen richtigen Kern enthielt. Besonders merkwürdig scheint es uns heute, dass AUDEMARS, wohl aus einer unbewussten Einstellung heraus, den Bast von Maulbeerbäumen zur Gewinnung von Kunstseide gewählt hat, wie wenn es nötig wäre, den inneren Zusammenhang zwischen der Seide des Maulbeerspinners und dem neuen Materiale aufrecht zu erhalten.
Später, im Jahre 1852, benützte man dann die Eigenschaft der gelösten Kollodiumwolle, sich in dünne Fäden ausziehen zu lassen, zur Herstellung von verhältnismässig dicken Fäden, welche nachträglich durch eine besondere Operation wieder in Zellulose zurückverwandelt wurden (Denitrierung). Man erkannte nämlich, dass eine derartige r e g e n e r i e r t e Zellulose besonders dichte und widerstandsfähige Kohlenfäden gebe, die für die gerade damals von Edison erfundene KohlenGlühfaden-Lampe verwendet wurden 4). Es sei hier daran erinnert, dass ~an später auch aus der sogenannten Kupferseide vielfach die Träger der bekannten Auerschen Glühstrümpfe (incandescent light) hergestellt hat, weil auch dieses Material sich durch besonders günstige Eigenschaften in bezug auf Schrumpfung beim Verkohlen auszeichnet. Sogar Gewebe aus Zellulose, die aus nitrierter Baumwolle erhalten worden waren, konnte man im Jahre 1885 auf einer Ausstellung in London sehen (SWANN's Erfindung).
Obschon nun die Industrie der "Nitrokunstseide" sozusagen fertig vorlag, brauchte es dennoch weitere vier Jahre, bis Graf Hilaire DE CHARDONNET 5) an der Weltausstellung von Paris im Jahre 1889 die erste technisch hergestellte Kunstseide zeigen konnte. Sein Material war aber noch nicht dazu geeignet, grosses Vertrauen einzuflössen, bestand es doch aus unveränderter äusserst feuergefährlicher und explosiver Schiessbaumwolle, wie sie heute nur noch zur Herstellung von verbrennbaren Pulversäcken für schwere Geschütze verwendet wird. Auch war dieses Material sehr unbeständig, indem es sich nach kürzerer oder längerer Zeit von selbst zersetzte und, auch ohne direkten Schaden zu stiften, zu einem unansehnlichen Pulver zerfiel. Graf DE CHARDONNET erfand bald darauf eine einfache und billige Methode, um die entzündliche "Nitrokunstseide" von den gefährlichen Nitrogruppen zu befreien. (Chemisch richtig heisst es nicht Nitrogruppe, sondern Nitratgruppe, siehe Seite 10 bei der Besprechung der Zelluloseabkömmlinge.)
Diese "Denitrierung" ermöglichte es erst, die Chardonnetseide als schönes, neues und völlig gefahrloses Fasermaterial auf den Markt zu bringen. Das Verdienst DE CHARDONNETs besteht in erster Linie darin, dass er sich durch keine Misserfolge von dem als richtig erkannten Wege abbringen liess.

3) Brief Schönbeins an Michael Faraday vorn 18. März 1864, Seite 155 des Briefwechsels, herausgegeben von G. W. Kahlbaum und F. V. Darbishire, 1599.
4) Patente von Swann, Weyne. Powel, Weston, Swinburn, Crookes: corref. nach Ullmann Enzyklopaedie (Band 7, Seite 306,1. Aufl.).
5) Graf Hilaire De Chardonnet, dessen eigenhändige Aufzeichnungen aus dem Jahre 1924 die Grundlage zu einem Rapporte der Journee lndustrielle bilden, ist wenige Wochen nach Erscheinen dieses Rapportes in seinem 55. Lebensjahre am 11. März l924 in Paris gestorben. (Ein Teil dieses Rapportes ist hier mitverwendet worden, während in dem Kapitel Chardonnetseide in "Herzog, die Kunstseide", geschrieben von DR. A. v. VAJDAFFY, der grösste Teil dieser wichtigen Mitteilungen übersetzt vorliegt.)

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Als Ausgangsmaterial für Chardonnetseide verwendet man ausschliesslich Baumwolle, Linters 1. Diese müssen sorgfältig gereinigt und auf einen Trockengehalt von 1 - 0,5 % Wasser gebracht werden. Die Trocknung geschieht immer in Lufttrockenschränken; Vakuumschränke können natürlich auch verwendet werden.
Um Chardonnetseide zu erhalten, wird die Baumwolle in der Weise nitriert, dass sie in einem Gemische von Aether und Alkohol vollkommen löslich ist. Diese Lösung wird hergestellt und durch geeignete Filter filtriert, was eine schwierige Operation ist, weil die Lösungen ausserordentlich dickflüssig sind. Darauf presst man die Lösung unter hohem Druck in die Luft, und nach einer ganz kurzen Luftstrecke in Wasser. Der so erhaltene sehr explosive Faden wird denitriert, gewaschen und gebleicht, und schliesslich gezwirnt.
Nitrierung:
Damit eine in Alkohol-Aether vollkommen lösliche Nitrozellulose erhalten werde, ist es nötig, eine Nitriersäure zu verwenden, die 18 % Wasser enthalte. Technisch verwendet man ein Gemisch von:
18 % Wasser
14,2 % Salpetersäure
ca. 67/68 % Schwefelsäure.
Die Wassermenge darf kaum variieren, dagegen hängt die Menge der Schwefelsäure z. T. von der Menge des gelösten Stickoxydes (NO2) ab. Eine mir bekannte Chardonnetseidenfabrik arbeitete z. B. bei einem NO2-Gehalt von 2-3 % mit obengenannten Zahlen, während man bei höherem NO2-Gehalt etwas mehr Schwefelsäure verwenden muss. Man kann bei einem NO2-Gehalt von 6-7 % ohne weiteres auf 75 Teile Schwefelsäure 100 %ig gehen, aber das Verhältnis von Wasser : Salpetersäure soll immer möglichst nahe an 18 : 14 sein.
Es ist nun unbedingt nötig, dass die Mischsäure, so nennt man das Gemisch von Wasser, Salpetersäure und Schwefelsäure, nach dem Mischer vollständig geklärt werde. Beide Säuren lösen nämlich für sich allein gewisse Mengen Eisensalze auf, die sich nach dem Mischen als feiner weisser Schlamm niedersetzen, auch wenn vorher beide Säuren vollkommen klar waren. Auch etwas Bleisulfat wird bei dem Mischen abgeschieden. Die Klärung, die in grossen Reservoirs aus Eisenblech vor sich geht, dauert ungefähr drei Tage, und nur vollkommen wasserhelle Mischsäure wird zur Herstellung verwendet.
Operiert man mit unreiner Säure, dann gehen die Eisensalze z. T. in die Nitrozellulose über und können nicht mehr vollständig ausgewaschen werden. Sie finden sich in den Lösungen, erschweren die Filtration der Kollodiumwolle-Lösungen und machen die Kunstseide unansehnlich. Zudem bewirken sie unangenehme Verstopfungen der feinen Glasdüsen beim Spinnen.
Die Nitrierungstemperatur beträgt 30-40°. Im Sommer geht man etwas tiefer als im Winter. Das Mengenverhältnis von Baumwolle zu der Mischsäure ist:
11 Teile Baumwolle
500 Teile Mischsäure.
Die Nitrierung geschieht nach dem sogenannten Topfverfahren. Man gibt die Mischsäure in einen nach unten konisch zugespitzten Gusseisentopf, der auf kleinen Rädern steht. Darauf stösst man die trockene Baumwolle mit einer Eisenzange (ähnlich einer Feuerzange) rasch unter das Niveau der Mischsäure und lässt die Säure 2 Stunden in der Ruhe einwirken.
Die Nitriertöpfe sind auf einer elliptischen Schienenbahn hintereinander aufgestellt und jedesmal, wenn ein neuer Topf gefüllt wird, rutscht der letzte "einen Topf" vorwärts, bis er nach 2 Stunden an die eiserne Zentrifuge gelangt. Diese ist unter einem Helm aufgestellt, der die schädlichen Gase absaugt. Die Nitriertöpfe werden mit einem Aluminiumdeckel bedeckt.
Es sind so viele Nitriertöpfe vorhanden, dass es immer zwei Stunden dauert, bis ein Topf zur Zentrifuge gelangt.
Nun wird der Nitriertopf, der ähnlich wie ein Kochbuttertopf auf der Seite Henkel besitzt, mittels eines kleinen Flaschenzuges und einer Gabel in die Höhe gehoben, die Arbeiter stürzen den

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Topfinhalt in die langsam laufende Zentrifuge, die darauf in rasche Drehung versetzt wird. Man zentrifugiert 15 Minuten. Das Mengenverhältnis von Nitrozellulose und der in dem Nitriergut verbleibenden Abfallsäure ist ziemlich genau 1 :1. Die abgeschleuderte Säure geht in den Betrieb zurück, nachdem man sie mit hochkonzentrierter Mischsäure auf die nötige Konzentration gebracht hat. Man kann sie 5-10 mal verwenden, bevor man sie regeneriert. Der Säureverlust beträgt 5%. Dieser Teil der Fabrikation ist der gefährlichste. Es kann bei unrichtiger Arbeit vorkommen, dass der ganze Zentrifugeninhalt plötzlich verpufft. Dabei entsteht keine Explosion, wohl aber giftige Gase, die die Arbeiter zur raschen Flucht nötigen.
Das fertig abgeschleuderte Gut wird nun rasch in viel Wasser geworfen (Eisenzangen) und während 15 Minuten gut gewaschen. Darauf nimmt man die Nitrozellulose heraus, zentrifugiert und kocht die Nitrozellulose 30 Minuten lang mit 2 %iger Salzsäure. Dadurch werden möglichst viel Metallverunreinigungen und gleichzeitig die in der Nitrozellulose chemisch gebundene Schwefelsäure entfernt (Verseifung).
Darauf wäscht man die Schiessbaumwolle in zwei weiteren Bottichen, bis der Säuregehalt unter 0,1% gefallen ist. Das zum Waschen verwendete Wasser darf kein Eisen enthalten. Es muss andernfalls vorher in einem Teiche gelüftet und abgesetzt werden. Zum Waschen braucht man ungefähr das 50fache Gewicht an reinem Wasser. Es ist schädlich, die Nitrozellulose, ähnlich wie bei der Fabrikation des Schiesspulvers, zu lange zu "holländern", weil dadurch die Festigkeit der Chardonnetseide leidet. Es ist, wie wenn durch die starke mechanische Behandlung die Faserstruktur zerstört würde.
Nachdem die Zellulose gewaschen ist, wird sie zentrifugiert und hat dann rund 25-27 % Wasser. Dieses Wasser wird nicht entfernt, sondern bleibt zur Auflösung in dem Nitriergute.
Untersuchung der Nitrozellulose:
Man bestimmt in einem Muster den Schwefelgehalt. Dieser soll unter 0,1 % betragen. Die Asche darf  0,6 % nicht übersteigen, kann aber bei trüber Mischsäure auf 1,7-2 % ansteigen. Eine derartige Kollodiumwolle ist nicht brauchbar.
Optische Untersuchung:
Die Kollodiumwolle muss unter gekreuzten Nicols unter Wasser rein hellstrohgelb aussehen und es sollen keine weissen unnitrierten Fasern sichtbar sein. Wenn man Alkohol zusetzt, muss die Faser nach kurzer Quellung rein blass-himmelblau erscheinen, weder stahlblau noch rötlich-blau.
Herstellung und Filtration der Kollodiumlösung:
Als Lösungsmittel für die nitrierte Baumwolle dient ein Gemisch von Alkohol und Äther. Das Mischungsverhältnis ist:
18 Teile "trockene" Kollodiumwolle mit 11,5 % Stickstoffgehalt
60 Teile Alkohol
40 Teile Äther.
Dazu kommt noch das in der feuchten Nitrozellulose enthaltene Wasser.
Die Fabrikation des Äthers geschieht immer in den Fabriken selbst und zwar nach dem bekannten Verfahren, welches darin besteht, dass man Alkohol in ein verbleites Gefäss eintropfen lässt, in welchem sich z. B. 2500 kg Schwefelsäure befindet, die eine Temperatur von möglichst genau 135° besitzt. Bei dieser Temperatur wird aus dem Alkohol kontinuierlich Äther gebildet nach der Gleichung:
2CH3 CH2OH - H2O    =   CH3-CH2-O-CH2-CQ
Alkohol                             Äther (Äthyläther)
 
 

Bemerkungen: Unter Kunstseide verstand man 1930 ausschliesslich Stoffe auf der Basis von Naturzellulose. Erwähnenswert ist, dass Seide als Eiweiss zu den Polyamiden, Viskose etc. aber zu den Kohlehydraten (Polyestern) gehört. Andere vollsynthetische Kunstfasern erlangten erst später Marktreife. Erfindungsjahre? etwa: 1910 Bakelit, 1914 PVC, 1930 Polystyrol, Polyacrylamid, 1937 Polyurethane, etc. sowie 1900 Polyamid, Markteinführung Nylon (Polyamid-66) 1940.

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