Neujahrsblatt der NGZH Nr. 138 auf das Jahr 1936; 44S. mit 4Tafeln und 4 Karten (Format des Hefts: 21 x 29 cm)
Aus der Erforschungsgeschichte der Polarwelt.
von M. Rikli (Zürich)

Neujahrsblatt

herausgegeben von der

Naturforschenden Gesellschaft in Zürich
auf das Jahr 1936.
138. Stück.

Aus der Erforschungsgeschichte
der Polarwelt.

von 

M. RIKLI (Zürich)
 

mit 4 Tafeln auf Kunstdruck und 4 Karten im Text.
 
 

Gebr. Fretz A.G., Zürich

 

German only

 
 
 

Inhalt: 
Vorwort
I. Nordpolargebiet
1. Frühzeit und Wikingerfahrten
2. Zeit der Handelsexpeditionen und der grossen geographischen Entdeckungsreisen
3. Die Erforschung der Natur der Polarregion
4. Die Motorisierung der Polarforschung im XX. Jahrhundert
5. Die neue Zeit
II. Südpolargebiet
Literatur
Bilder und Kürzestlebensläufe von:
John Cabot, A.v.Mackenzie, J.Cook, John Franklin, Adolf Erik v.Nordenskiöld, Fritjof Nansen, Alfred de Quervain, J.G.Gmelin, Oswald Heer, K.E.v Baer, E.Warming, A.G.Nathorst, R.E.Peary, Alfred Wegener, V.Stefansson, Lauge Koch und M.Erichsen
 

Vorwort
Vor mehr als 680 Jahren schrieb der unbekannte Verfasser des «Königspiegels»¹: «Wünschest Du zu wissen, was Leute in jenen Ländern (im hohen Norden) suchen, oder warum Leute bei so grosser Lebensgefahr dorthin fahren, so wisse, dass eine dreifältige Natur in dem Manne ist, die ihn dazu treibt. Ein Teil ist Wetteifer und Neigung zur Berühmtheit; denn es ist die Natur des Mannes, dorthin zu ziehen, wo Aussicht auf grosse Gefahr ist und sich dadurch einen Namen zu machen. Der zweite Teil ist Wissbegierde; denn es ist auch die Natur des Mannes, dass er die Gegenden, von denen man ihm erzählt hat, kennen und sehen und auch wissen will, ob es dort so ist, wie man ihm gesagt hat. Der dritte Teil ist Gewinnsucht; denn die Leute suchen überall nach Geld und Gut und gehen dorthin, wo sie hören, dass man es gewinnen kann, wenn auch grosse Gefahr dabei sein sollte».
Dazu kommt aber, wie Fridtjof Nansen sehr treffend bemerkt, noch eine weitere mächtige Triebfeder der Polarforschung, es ist die Macht des Unbekannten auf das menschliche Gemüt. In seinem «Nebelheim» ² schreibt dieser Forscher: «Nirgends sind wir langsamer vorgedrungen, nirgends hat jeder neue Schritt vorwärts so viele Anstrengung, so viele Leiden und Entbehrungen gekostet, und nirgends haben die errungenen Entdeckungen wohl weniger materielle Vorteile versprochen - und dennoch standen jederzeit neue Kräfte bereit, um vorwärts zu kommen und die Grenzen der Welt noch weiter hinauszurücken. Wer vermag das Gefühl in Worten auszudrücken, wenn die letzte schwierige Eisscholle besiegt ist und vor dem Auge das Meer nach neuen Reichen hin offen liegt, wenn der Nebel sich verzieht und eine Bergspitze nach der anderen, immer weiter und weiter auftaucht, und ganz hinten am Horizont ferne Gipfel über dem Meeresrande sich auftürmen, am Himmel über ihnen der gelblich-weisse Widerschein der Firnfelder - wo der Gedanke neue Kontinente aufbaut! -»
Und Roald Amundsen, Leiter der Gjöa-Expedition (1903 1907) und glücklicher Bezwinger der Nordwestpassage, bemerkt durchaus zutreffend ³, dass auf der Polarforschung von jeher nicht allein der ihr eigene hohe Glanz weisser Schneefelder, gigantischer, in phantastischen Formen erodierter Eisberge und wunderbarer Himmelserscheinungen (Polarlicht, Fata morgana), sondern immer auch das Juwel wahren, ungetrübten Idealismus geruht hat.
Im schärfsten Gegensatz zur zeitgenössischen Kolonialgeschichte der tropischen und subtropischen Länder, die mit all ihren Greueln und Intrigen zu einem Schandfleck unserer Zivilisation geworden ist, und im Verlauf der Zeit in Europa eine Atmosphäre von Misstrauen, Unaufrichtigkeit, von schrankenlosem Macht- und Goldhunger schuf, die schliesslich mit absoluter Notwendigkeit zum Weltkrieg führen musste und damit zur fürchterlichsten Krisis, von der die Menschheit je heimgesucht worden ist, einer Krisis, in der wir heute noch stehen - im Gegensatz zu diesem dunkelsten Blatt unserer Zeitgeschichte bildet die Erforschung der Polarländer ein nahezu unbeflecktes Ehrenblatt unserer Zeit.
Es waren besonders die Engländer, Nordamerikaner, Russen und die skandinavischen Völker, welche sich um die Erforschung dieser in Nacht und Eis gehüllten Welt die grössten Verdienste erworben haben, Verdienste, die später auch Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, je selbst unsere kleine Schweiz zu erfolgreichem Wettbewerb veranlassten.
Welch erfreuliches, wohltuendes und erhebendes Schauspiel menschlicher Aufopferungsfähigkeit und Willenskraft enthüllen nicht all die zahlreichen in jene Regionen ausgeführten ...
1 Der « Königspiegel », ein altnorwegisches Werk, um 1250 erschienen, ist die Hauptquelle über die Kulturgeschichte Norwegens im frühen Mittelalter.
2 Bd. 1, S. 4.
3 Die Nordwestpassage (1908), S.1.
 
map arctis discovery Die Arktis um das Jahr 1850
+ 2/3: Vorstösse von Scoresby (1806) und Parry (1827)
 
 
Aus Kapitel 2:
In dieser Periode galt es vor Allem die Kartographie, die Ozeanographie und Klimatologie auszubauen, die Geologie und Tektonik der arktischen Länder näher kennen zu lernen, die Tierwelt und ihre Lebensweise zu erforschen, die Pflanzenwelt mit ihren Anpassungserscheinungen zu studieren, die versteinerten Überreste früherer Erdepochen der Hocharktis zu sammeln und zu bearbeiten, der Frage der Herkunft, der Wanderungen und des Kulturschatzes der Polarvölker nachzugehen. Auch manche allgemein geophysikalischen Probleme wurden in den Aufgabenkreis einbezogen, wie z. B. das Aufsuchen des magnetischen Nordpoles, der 1831 durch J. Ross auf der Halbinsel Boothia Felix entdeckt wurde. Auf dieser Reise wurde zum ersten Mal ein Dampfschiff in arktischen Gewässern verwendet. Das Interesse weiter wissenschaftlicher Kreise wendet sich auch dem Verlauf der Meeresströmungen im Polarbecken und ihrer Bedeutung für den Haushalt des hohen Nordens, sowie der Treibholzfrage zu. Aber auch einige rein geographische Fragen, wie die Gliederung des arktisch amerikanischen Archipels, die Durchquerung Grönlands und die Eroberung des Nordpols vermochten zeitweise die Welt in Atem zu halten.
Auf Anregung und im Auftrage der Hudsonbay-Kompagnie wandten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die für den Pelzhandel interessierten Kreise der Erforschung der nördlichen Teile des kanadischen Festlandes zu. Bereits in den Jahren 1769 1772 ist es SAMUEL HEARNE gelungen, den schnellenreichen Kupferminenfluss mit seinen reichen Erzlagern zu entdecken, und dessen Lauf bis ins Eismeer zu verfolgen. Noch wichtiger wurde die Expedition des schottischen Handelsmannes Alexander Mackenzie (1755-1820). Im Jahre 1789 brachte er die erste Kunde von einem Riesenstrom im westlichen Kanada, dem später nach ihm benannten Mackenzie-River, den er auf einer Strecke von 700 km bis zu dessen Mündung befahren hat. Ihm sind auch die ersten genaueren Ortsbestimmungen im arktischen kontinentalen Nordamerika zu verdanken. Schon vorher ist im Jahre 1778 JAMES COOK (1728-1779) durch die Beringstrasse bis zum Eiskap (Icy Cape, ca. 70° N.) in N-W. Alaska gelangt und hat damit endgültig die immer wieder in Zweifel gezogene Trennung von Amerika und Asien festgestellt.
Dies waren die Vorläufer der dritten Hauptperiode der arktischen Forschungsgeschichte. Eröffnet wurde die neue Zeit durch die Fahrt von Otto v. Kotzebue (1787-1846), der im Jahre 1816 als Leiter der Rurik-Expedition den nach ihm benannten Kotzebuesund im nordwestlichen Nordamerika entdeckte und erforschte. Unter seinen Begleitern befanden sich auch zwei deutsche Gelehrte, Johann Friedrich Eschholtz (1793-1834) und der besonders als Dichter bekannt gewordene Adalbert v. Chamisso (1781-1838). Ihre Aufzeichnungen und botanischen Notizen über Nordwestalaska, die Beringinsel, Unalaschka und Sitka gehören noch heute zu den zuverlässigsten Quellen über diese Länder. So war am Anfang des 19. Jahrhunderts die Polarküste Amerikas wenigstens in ihren Hauptzügen bekannt; dagegen blieb der grösste Teil der insularen Neoarktis immer noch eine terra incognita.
EDUARD PARRY (1790-1855), einer der hervorragendsten Männer auf dem Gebiet der Polarforschung, hatte bereits als Leutnant unter John Ross gedient. Als selbständiger Leiter gelang es ihm im Jahre 1819 durch den Lancastersund und die Barrowstrasse bis zur Melvilleinsel vorzudringen und damit von Osten her den 110° w. L. zu erreichen. Mit dieser Leistung wurde eine vom britischen Parlament ausgesetzte Prämie von 5000 Pfund fällig. In einer geschützten Bucht, die seither den Namen «Winterhafen» führt, sah sich Ed. Parry zur Überwinterung genötigt. Im folgenden Jahre sichtete er auch noch das Banksland. Wenig hätte gefehlt, so wäre ihm die Bezwingung der Nordwestpassage gelungen. Jedenfalls aber wurde durch ihn festgestellt, dass durch das Inselgewirr des arktisch-amerikanischen Archipels eine, wenigstens in einzelnen besonders günstigen Sommern, auf kurze Zeit offene Meeresverbindung vorhanden ist. E. Parrys Tat war auch noch in einer anderen Richtung bemerkenswert, ist er doch der erste Nordpolfahrer gewesen, der im Winter von seinem Schiffe aus grössere Reisen zur Erforschung der näheren und weiteren Umgebung unternommen hat.
Das wiederum erwachte Interesse an der Polarforschung und die schönen Erfolge von Parry fanden in Grossbritannien ein mächtiges Echo und belebten auf's neue die alte Leidenschaft für die Nordwestpassage. Sie fand bald ihren Ausdruck in der Ausrüstung einer ganzen Reihe grosser Unternehmungen nach jenen Gewässern. John Ross (1777 1856) drang 1818 über die Melvillebucht und den Smithsund bis zum Foulkefjord (78° 18' N.) vor und brachte die erste Kunde von den Etah-Eskimos, den nördlichsten ständig bewohnten Niederlassungen der Erde, nach Europa. Und an den Küsten von Baffinland entdeckte er auf vorgelagerten Inseln, den sogenannten Karmesinklippen, die wunderbare Erscheinung des roten Schnees.
Die eigentliche Erforschung und kartographische Aufnahme der insularen Neoarktis ist jedoch das Verdienst der Franklinexpedition, noch mehr aber der zu ihrer Rettung aus gesandten zahlreichen Hilfsexpeditionen. Schon in den Jahren 1819-22 hatte John FRANKLIN (1786-1847) mit John RICHARDSON (1787-1865) eine abenteuerliche Landreise durch das arktische Kanada zum Kupferminenfluss unternommen. 1825-1827 fand zur weiteren Erforschung der amerikanischen Polarküste eine zweite Expedition unter Franklins Leitung statt. Durch diese Reisen wurde die Küstengliederung vom Kupferminenfluss bis in die Gegend von Point Barrow, d. h. in einer Ausdehnung von etwa 45 Längengraden klar gelegt, womit die Polarküste Amerikas in ihrer ganzen Ausdehnung aufgenommen war.
Eine der denkwürdigsten Episoden aus der Erforschungsgeschichte der Arktis bildet aber die Expedition, die unter Leitung von John Franklin 1845 auf den beiden Schiffen «Erebus» und «Terror» zur Entdeckung der Nordwestpassage von England ausgesandt worden ist. Die Besatzung zählte 134 Mann. Als bis 1848 keinerlei Nachrichten eingegangen waren, wurden zahlreiche Hilfsexpeditionen ausgerüstet. Im Verlauf der Jahre sind nicht weniger als 40 Franklinsucher nach dem arktisch-amerikanischen Archipel aufgebrochen. Allein im Jahre 1850 waren im amerikanischen Polarmeer 16 Fahrzeuge auf der Suche nach den Verschollenen. Der Gesamtaufwand aller Rettungsexpeditionen belief sich auf über 30 Millionen Franken.
Als erste Spur fand man auf der Beechyinsel drei Gräber von Teilnehmern der Franklinexpedition. Unter den vielen Hilfsexpeditionen war besonders diejenige von MAC CLURE (1808 bis 1873) bedeutsam geworden. Sie drang (1850-54) von der Beringstrasse ausgehend ins amerikanische Polarmeer und erforschte Teile des Bankslandes und der Melvilleinsel. Der 6. April 1853 wird in der Geschichte der Polarforschung für immer ein denkwürdiger Tag bleiben, denn an demselben begegneten sich zum erstenmal eine vom Atlantischen Ozean (Kapitän KELLETT) und eine vom Stillen Ozean (MAC CLURE) ausgegangene Expedition. Allerdings war das letzte Stück nicht zu Wasser, sondern auf Schlitten zurückgelegt worden. Doch die Nordwest-Passage war entdeckt. Erst in den Jahren 1903-07 wurde jedoch von der Gjöaexpedition unter dem Norweger ROALD AMUNDSEN (1872  1928), dem späteren Eroberer des Südpols (15. Dezember 1911), der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean durch das Wirrsal des arktischamerikanischen Archipels tatsächlich von einem Schiff zurückgelegt. Die Erfahrung hat ergeben, dass zwischen den einzelnen Inseln die Gewässer vielfach so ausserordentlich seicht sind, dass nur mit einem Schiff von unbedeutendem Tiefgang durchzukommen ist. Da das Eis zudem nicht alljährlich und auch dann nur ganz kurze Zeit auftaut, so wird diesem Seeweg niemals eine praktische Bedeutung zukommen. Mit dieser Tat ist, vom höchsten Norden abgesehen, die Erforschung der insularen Neoarktis (Franklin Archipel) zu einem gewissen Abschluss gekommen.
Doch kehren wir zu John Franklin und seinen Leuten zurück. Die ersten sicheren Nachrichten brachte JOHN RAE. Bei Gelegenheit einer Überlandreise im Dienste der Hudsonbaygesellschaft kam derselbe 1853 auf der Halbinsel Boothia Felix mit Eskimos zusammen, die vor drei Jahren vierzig weisse Männer an der Küste von König Wilhelm-Land nach Süden ziehen sahen. Diese Eskimos besassen allerlei Gegenstände der Franklinexpedition. Im Jahre 1857 fand endlich LEOPOLD MCCLINTOCK Geräte, Gerippe und andere Überbleibsel der Franklinexpedition auf König Wilhelm-Land, sowie unter einem Steinhaufen eine Metallbüchse mit dem einzigen authentischen Bericht. Das Schriftstück trug das Datum vom 25. April 1848. Nach demselben wurde das Schiff nordwestlich von Nord-Devon zwei Jahre vom Eise festgehalten. J. Franklin ... Die Vergiftung zu finden war späteren Forschern vorbehalten.
 

Aus Kapitel 3:
... zur Überwinterung, sowie die lange Stallfütterung die Rendite zu sehr belasten würde. Aber Renntier und Polarrind (Moschusochse) brauchen dies nicht. Auf ihnen ruht nicht nur die Hoffnung, sondern geradezu die Gewissheit, dass diese subarktischen und arktischen Steppen mit ihrem gesunden Klima in nicht zu ferner Zeit eine wichtige Mission zu erfüllen haben werden. Das nördliche Kanada und Sibirien sind in ihrer unabsehbaren Ausdehnung ein einzig dastehendes Gras- und Weideland. In den Jahren 1892 1902 wurden aus Sibirien in Alaska 1280 Renntiere eingeführt; 1903 zählte man bereits 6000 Stück, 1918 waren es 120,000 und 1927 wurde die Zahl der Renntiere in Alaska auf 600,000 geschätzt. Im Jahre 1923 betrug der Ausfuhrwert von Renntierfleisch aus Alaska rund 38,000 $, 1925 bereits mehr als 111,000 $ und die Menge stieg innerhalb der gleichen Zeit von 196,000 auf 681,000 Pfund, mithin um mehr als das Dreifache. Auch in Nordkanada hat in den letzten beiden Dezennien die Renntierzucht eine wesentliche Zunahme erfahren, ohne dass ich bestimmte Zahlen angeben könnte. Die subarktischen Teile Kanadas eignen sich gut als Getreideländer. Immer weiter dringt der Weizenfarmer nach Norden vor.
Nicht unbedeutend sind im hohen Norden offenbar auch die Bodenschätze. Grosse Gold- und Kupferlagerstätten finden sich im Yukontal Alaskas und an verschiedenen Orten im arktischen Nordamerika. Auch Kohlenlager werden bereits mehrfach ausgebeutet, wie z. B. im Yukontal, in Grönland und auf Spitzbergen. Zur Rückfahrt nach Europa wird schon seit Jahren vom königl. grönländischen Handel keine europäische, sondern grönländische Kohle verwendet. Im Süden von Baffinland und bei Turuchansk am Jenissei finden sich Graphitlager; am Mackenzie und im nördlichsten Skandinavien (Gellivara) kennt man ausgedehnte Eisenlagerstätten, die z. T. bereits jetzt einen reichen Ertrag ergeben. Ivigtut in Südgrönland liefert den wertvollen Kryolith; östlich vom Bärensee in Kanada gibt es Phosphatlager; am Sklavensee, am Mackenzie und an der unteren Petschora finden sich Petroleumfelder, die nur auf Ausbeutung warten, ja vereinzelt erheben sich da und dort bereits Bohrtürme. V. STEFFANSSON entdeckte Ölfelder sogar noch 800 km nördlich vom Polarkreis.
Die Glanzzeiten der Walfischerei sind zwar vorüber, aber immer ist das Meer noch reich an Nutztieren. Bei der Überfahrt von Egedesminde nach Godhavn (1908) umschwärmte eine grosse Seehundherde unser Motorboot. Die Flüsse sind reich an Fischen. Besonders geschätzt ist das zarte Fleisch der Lachsforellen. Vogelschwärme liefern Eier und Fleisch; Eiderenten wertvolle Daunen; Walross und Narval Elfenbein. Fossiles Elfenbein wird in Nordsibirien ausgebeutet. Infolge der grossen Nachfrage nach Blau- und Weissfuchsfellen erlebt der Pelzhandel zur Zeit einen neuen Aufschwung, sodass die 1670 gegründete Hudsonbay-Gesellschaft, die mehrfach vor dem Zusammenbruch stand, eine neue Blütezeit erlebt und seit der Jahrhundertwende im subarktischen und arktischen Kanada über mehr als 50 grosse Geschäfts- und Lagerhäuser verfügt.
So hat es allen Anschein, dass es weiten Teilen der Arktis ergehen könnte wie einst England, das jahrhundertelang als ein Land ohne Hilfsquellen galt, heute aber mit seinen enormen Bodenschätzen gegen 36 Millionen Einwohner ernährt; das sind 271 je km2.
Es gibt mancherlei Anzeichen dafür, dass auch die Arktis am Anfang einer neuen Zeit steht. In der Nachkriegszeit sind von den nordischen Staaten die Zukunftsmöglichkeiten der Polarwelt erkannt worden. Handelte es sich noch vor einem Menschenalter zum grossen Teil um herrenlose Länder, so haben seither die angrenzenden Staaten auf ihnen ihre Fahne gehisst und sie als unter ihrem Hoheitsrecht stehend erklärt; aber nicht nur dies, sie wurden tatsächlich in Besitz genommen, beziehungsweise, wo dies noch nicht geschehen ist, in Interessensphären aufgeteilt. Die kontinentalen Teile der Paläo- und Neoarktis können ungezählten Millionen Menschen als Ansiedlungsboden dienen und sie auch ernähren. Noch mehr. Mit dem Ausbau der Aviatik ist die bisher in einem sozusagen verkehrsleeren Raum der Erde gelegene Arktis plötzlich in das Blickfeld eines wichtigen transkontinentalen Durchgangsgebietes getreten. Von den Zentren Westeuropas stellen die Luftwege über das Nordpolargebiet nach Montreal, Winnipeg, Vancouver, Seattle, im nördlich pazifischen Nordamerika, sowie nach Kamtschatka und Tokio in Ostasien die kürzesten Verbindungen her. Von Berlin geht der kürzeste Weg nach Nordalaska nahezu direkt über den Pol. Die neuzeitliche Anlage von zahlreichen Funkstellen und vollwertigen meteorologischen Anstalten steht mit diesen Plänen in engstem Zusammenhang. Bereits sind auch eine Reihe von Probeflügen in diesem Raum durchgeführt worden. An anderer Stelle haben wir schon darauf hingewiesen. In diesem Zusammenhang sei auch noch auf den Flug von A. LINDBERGH (1927) über Island, Grönland und Neufundland nach Nordamerika erinnert. All diese Flüge haben gelehrt, dass, sobald die nötigen Grundlagen eines zuverlässigen Wetterdienstes und die Möglichkeit von Zwischenlandungen geschaffen, sowie die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt sind, diesen Plänen keine wesentlichen Hindernisse mehr entgegenstehen.
Was der neuen Zeit im hohen Norden noch in der Hauptsache fehlt, das sind interne Verkehrslinien und Siedelungszentren, von denen aus das Land urbar gemacht werden kann. Aber auch in dieser Hinsicht stösst man überall auf die Pionierarbeit einer neuen Zeit. Es sei verwiesen auf die Bestrebungen eines regelmässigen Schiffahrtsverkehrs vom Jenissei und Ob nach nordeuropäischen Gewässern, sowie auf die neue Schiffahrtslinie von der Hudsonbucht nach dem nordatlantischen Ozean und nach den östlichen Teilen der Neoarktis. Bisher gab es nur jeden Sommer Vergnügungsfahrten nach Spitzbergen. Grönland ist immer noch ein geschlossenes Land geblieben. Dagegen machen sich in Nordamerika im Westen und Osten Bestrebungen zum Ausbau von Dampferlinien bis in den hohen Norden bemerkbar, so z. B. vom Nome nach Point Barrow und der Herschelinsel. Auf dem Mackenzie verkehren schon seit Jahren regelmässig Postdampfer, und Postfluglinien durchziehen bereits grosse Teile Kanadas bis weit in den Norden. Ja, heute ist es möglich verhältnismässig bequem mit Frau und Kind bis nach Ellesmereland zu reisen. In sehr anschaulicher Weise berichtet COLIN Ross über seine Fahrt im Sommer 1933 mit dem Eisbrecher «Nascopie» längs der Ostküste von Baffinland bis an Smithsund.
Wenn die Krise, in der wir zur Zeit stehen, weiter andauert, so dürfte sie diese Entwicklung beschleunigen und aus den übervölkerten Ländern Europas einen Zuwanderungsstrom junger Kräfte veranlassen. Besonders in Kanada ist die Zivilisation in vollem Marsch nach Norden begriffen. Auf breitester Front dringen die Pioniere der neuen Zeit unaufhaltsam vor. Im bisher nahezu menschenleeren Raum entstehen neue Siedelungen. Es sind ebenso viele Stützpunkte der im Vormarsch begriffenen Kultur des weissen Mannes zur Eroberung der «unwirtlichen» Polarländer.
An der Westküste der Hudsonbay ist Churchill (ca. 59°N.) eine im Entstehen begriffene Stadt. Durch eine Bahnlinie von rund 800 km Länge ist sie bereits mit der nordkanadischen Pazifikbahn verbunden. Ein an einen Wolkenkratzer erinnernder, mächtiger Elevator und Getreidesilos beherrschen weithin das völlig flache Tiefland. Bereits ist der zur Zeit noch weltverlassene Getreidehafen jeden Sommer vom Mai bis in Oktober durch einen regelmässigen Dampferverkehr mit der übrigen Welt verbunden. Die Schiffe legen am kürzlich erstellten Hafendamm an. Obwohl nur aus wenigen Wohnhäusern bestehend, ist Churchill schon Residenz des ersten Bischofs der amerikanischen Arktis. Auch die Kirche hat somit die Zeichen der Zeiten erkannt. Seit zwanzig Jahren hat Kanada bis Nord-Devon und bis an die Südküste von Ellesmereland Polizeistationen errichtet, so im Jahre 1913 bei Kap Wolstenholme am Eingang in die Hudsonstrasse; 1915 entstand die Station Port Burwell an der Nordspitze Labradors, 1920 wurde Port Harns auf Baffinland, 1921 die kleinen Siedelungen von Pangnirtung und Pondsinlet gegründet, 1923 diejenige von Clyde an der Nordspitze von Baffinland. Noch nicht völlig sichergestellt ist Craig Harbour am Jonessund an der Südküste von Ellesmereland und Bache (1923 -1926) an der Westküste des Smithsundes. Mit 79° N. ist dies zur Zeit die nördlichste Siedlung der Erde, sogar etwas nördlicher gelegen als die reine Eskimosiedelung Etah (78°20'N), die bisher diesen Rang inne hatte. Die nördlichste Europäersiedelung Westgrönlands war bis vor kurzer Zeit Upernivik (72°47'N). Jetzt ist es Thule, eine Eskimosiedelung und Handelsstation bei 76°40'N. Der Rest ist bereits Geschichte. KNUT RASMUSSEN hat eine ältere Kulturschicht der Eskimo nachgewiesen und sie als Thulekultur bezeichnet. Am Ausgang des Skoresbysundes in Ostgrönland ...

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