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Vorwort
Vor mehr als 680 Jahren schrieb der unbekannte Verfasser des «Königspiegels»¹:
«Wünschest Du zu wissen, was Leute in jenen Ländern (im
hohen Norden) suchen, oder warum Leute bei so grosser Lebensgefahr dorthin
fahren, so wisse, dass eine dreifältige Natur in dem Manne ist, die
ihn dazu treibt. Ein Teil ist Wetteifer und Neigung zur Berühmtheit;
denn es ist die Natur des Mannes, dorthin zu ziehen, wo Aussicht auf grosse
Gefahr ist und sich dadurch einen Namen zu machen. Der zweite Teil ist
Wissbegierde; denn es ist auch die Natur des Mannes, dass er die Gegenden,
von denen man ihm erzählt hat, kennen und sehen und auch wissen will,
ob es dort so ist, wie man ihm gesagt hat. Der dritte Teil ist Gewinnsucht;
denn die Leute suchen überall nach Geld und Gut und gehen dorthin,
wo sie hören, dass man es gewinnen kann, wenn auch grosse Gefahr dabei
sein sollte».
Dazu kommt aber, wie Fridtjof Nansen sehr treffend bemerkt, noch eine
weitere mächtige Triebfeder der Polarforschung, es ist die Macht des
Unbekannten auf das menschliche Gemüt. In seinem «Nebelheim» ²
schreibt dieser Forscher: «Nirgends sind wir langsamer vorgedrungen,
nirgends hat jeder neue Schritt vorwärts so viele Anstrengung, so
viele Leiden und Entbehrungen gekostet, und nirgends haben die errungenen
Entdeckungen wohl weniger materielle Vorteile versprochen - und dennoch
standen jederzeit neue Kräfte bereit, um vorwärts zu kommen und
die Grenzen der Welt noch weiter hinauszurücken. Wer vermag das Gefühl
in Worten auszudrücken, wenn die letzte schwierige Eisscholle besiegt
ist und vor dem Auge das Meer nach neuen Reichen hin offen liegt, wenn
der Nebel sich verzieht und eine Bergspitze nach der anderen, immer weiter
und weiter auftaucht, und ganz hinten am Horizont ferne Gipfel über
dem Meeresrande sich auftürmen, am Himmel über ihnen der gelblich-weisse
Widerschein der Firnfelder - wo der Gedanke neue Kontinente aufbaut! -»
Und Roald Amundsen, Leiter der Gjöa-Expedition (1903 1907) und
glücklicher Bezwinger der Nordwestpassage, bemerkt durchaus zutreffend
³, dass auf der Polarforschung von jeher nicht allein der ihr eigene hohe
Glanz weisser Schneefelder, gigantischer, in phantastischen Formen erodierter
Eisberge und wunderbarer Himmelserscheinungen (Polarlicht, Fata morgana),
sondern immer auch das Juwel wahren, ungetrübten Idealismus geruht
hat.
Im schärfsten Gegensatz zur zeitgenössischen Kolonialgeschichte
der tropischen und subtropischen Länder, die mit all ihren Greueln
und Intrigen zu einem Schandfleck unserer Zivilisation geworden ist, und
im Verlauf der Zeit in Europa eine Atmosphäre von Misstrauen, Unaufrichtigkeit,
von schrankenlosem Macht- und Goldhunger schuf, die schliesslich mit absoluter
Notwendigkeit zum Weltkrieg führen musste und damit zur fürchterlichsten
Krisis, von der die Menschheit je heimgesucht worden ist, einer Krisis,
in der wir heute noch stehen - im Gegensatz zu diesem dunkelsten Blatt
unserer Zeitgeschichte bildet die Erforschung der Polarländer ein
nahezu unbeflecktes Ehrenblatt unserer Zeit.
Es waren besonders die Engländer, Nordamerikaner, Russen und die
skandinavischen Völker, welche sich um die Erforschung dieser in Nacht
und Eis gehüllten Welt die grössten Verdienste erworben haben,
Verdienste, die später auch Deutschland, Österreich, Frankreich,
Italien, je selbst unsere kleine Schweiz zu erfolgreichem Wettbewerb veranlassten.
Welch erfreuliches, wohltuendes und erhebendes Schauspiel menschlicher
Aufopferungsfähigkeit und Willenskraft enthüllen nicht all die
zahlreichen in jene Regionen ausgeführten ...
1 Der « Königspiegel », ein altnorwegisches
Werk, um 1250 erschienen, ist die Hauptquelle über die Kulturgeschichte
Norwegens im frühen Mittelalter.
2 Bd. 1, S. 4.
3 Die Nordwestpassage (1908), S.1.
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Die Arktis um das Jahr 1850
+ 2/3: Vorstösse von Scoresby (1806) und Parry (1827) |
Aus Kapitel 3:
... zur Überwinterung, sowie die lange Stallfütterung die
Rendite zu sehr belasten würde. Aber Renntier und Polarrind (Moschusochse)
brauchen dies nicht. Auf ihnen ruht nicht nur die Hoffnung, sondern geradezu
die Gewissheit, dass diese subarktischen und arktischen Steppen mit ihrem
gesunden Klima in nicht zu ferner Zeit eine wichtige Mission zu erfüllen
haben werden. Das nördliche Kanada und Sibirien sind in ihrer unabsehbaren
Ausdehnung ein einzig dastehendes Gras- und Weideland. In den Jahren 1892
1902 wurden aus Sibirien in Alaska 1280 Renntiere eingeführt; 1903
zählte man bereits 6000 Stück, 1918 waren es 120,000 und 1927
wurde die Zahl der Renntiere in Alaska auf 600,000 geschätzt. Im Jahre
1923 betrug der Ausfuhrwert von Renntierfleisch aus Alaska rund 38,000
$, 1925 bereits mehr als 111,000 $ und die Menge stieg innerhalb der gleichen
Zeit von 196,000 auf 681,000 Pfund, mithin um mehr als das Dreifache. Auch
in Nordkanada hat in den letzten beiden Dezennien die Renntierzucht eine
wesentliche Zunahme erfahren, ohne dass ich bestimmte Zahlen angeben könnte.
Die subarktischen Teile Kanadas eignen sich gut als Getreideländer.
Immer weiter dringt der Weizenfarmer nach Norden vor.
Nicht unbedeutend sind im hohen Norden offenbar auch die Bodenschätze.
Grosse Gold- und Kupferlagerstätten finden sich im Yukontal Alaskas
und an verschiedenen Orten im arktischen Nordamerika. Auch Kohlenlager
werden bereits mehrfach ausgebeutet, wie z. B. im Yukontal, in Grönland
und auf Spitzbergen. Zur Rückfahrt nach Europa wird schon seit Jahren
vom königl. grönländischen Handel keine europäische,
sondern grönländische Kohle verwendet. Im Süden von Baffinland
und bei Turuchansk am Jenissei finden sich Graphitlager; am Mackenzie und
im nördlichsten Skandinavien (Gellivara) kennt man ausgedehnte Eisenlagerstätten,
die z. T. bereits jetzt einen reichen Ertrag ergeben. Ivigtut in Südgrönland
liefert den wertvollen Kryolith; östlich vom Bärensee in Kanada
gibt es Phosphatlager; am Sklavensee, am Mackenzie und an der unteren Petschora
finden sich Petroleumfelder, die nur auf Ausbeutung warten, ja vereinzelt
erheben sich da und dort bereits Bohrtürme. V. STEFFANSSON entdeckte
Ölfelder sogar noch 800 km nördlich vom Polarkreis.
Die Glanzzeiten der Walfischerei sind zwar vorüber, aber immer
ist das Meer noch reich an Nutztieren. Bei der Überfahrt von Egedesminde
nach Godhavn (1908) umschwärmte eine grosse Seehundherde unser Motorboot.
Die Flüsse sind reich an Fischen. Besonders geschätzt ist das
zarte Fleisch der Lachsforellen. Vogelschwärme liefern Eier und Fleisch;
Eiderenten wertvolle Daunen; Walross und Narval Elfenbein. Fossiles Elfenbein
wird in Nordsibirien ausgebeutet. Infolge der grossen Nachfrage nach Blau-
und Weissfuchsfellen erlebt der Pelzhandel zur Zeit einen neuen Aufschwung,
sodass die 1670 gegründete Hudsonbay-Gesellschaft, die mehrfach vor
dem Zusammenbruch stand, eine neue Blütezeit erlebt und seit der Jahrhundertwende
im subarktischen und arktischen Kanada über mehr als 50 grosse Geschäfts-
und Lagerhäuser verfügt.
So hat es allen Anschein, dass es weiten Teilen der Arktis ergehen
könnte wie einst England, das jahrhundertelang als ein Land ohne Hilfsquellen
galt, heute aber mit seinen enormen Bodenschätzen gegen 36 Millionen
Einwohner ernährt; das sind 271 je km2.
Es gibt mancherlei Anzeichen dafür, dass auch die Arktis am Anfang
einer neuen Zeit steht. In der Nachkriegszeit sind von den nordischen Staaten
die Zukunftsmöglichkeiten der Polarwelt erkannt worden. Handelte es
sich noch vor einem Menschenalter zum grossen Teil um herrenlose Länder,
so haben seither die angrenzenden Staaten auf ihnen ihre Fahne gehisst
und sie als unter ihrem Hoheitsrecht stehend erklärt; aber nicht nur
dies, sie wurden tatsächlich in Besitz genommen, beziehungsweise,
wo dies noch nicht geschehen ist, in Interessensphären aufgeteilt.
Die kontinentalen Teile der Paläo- und Neoarktis können ungezählten
Millionen Menschen als Ansiedlungsboden dienen und sie auch ernähren.
Noch mehr. Mit dem Ausbau der Aviatik ist die bisher in einem sozusagen
verkehrsleeren Raum der Erde gelegene Arktis plötzlich in das Blickfeld
eines wichtigen transkontinentalen Durchgangsgebietes getreten. Von den
Zentren Westeuropas stellen die Luftwege über das Nordpolargebiet
nach Montreal, Winnipeg, Vancouver, Seattle, im nördlich pazifischen
Nordamerika, sowie nach Kamtschatka und Tokio in Ostasien die kürzesten
Verbindungen her. Von Berlin geht der kürzeste Weg nach Nordalaska
nahezu direkt über den Pol. Die neuzeitliche Anlage von zahlreichen
Funkstellen und vollwertigen meteorologischen Anstalten steht mit diesen
Plänen in engstem Zusammenhang. Bereits sind auch eine Reihe von Probeflügen
in diesem Raum durchgeführt worden. An anderer Stelle haben wir schon
darauf hingewiesen. In diesem Zusammenhang sei auch noch auf den Flug von
A. LINDBERGH (1927) über Island, Grönland und Neufundland nach
Nordamerika erinnert. All diese Flüge haben gelehrt, dass, sobald
die nötigen Grundlagen eines zuverlässigen Wetterdienstes und
die Möglichkeit von Zwischenlandungen geschaffen, sowie die nötigen
finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt sind, diesen Plänen
keine wesentlichen Hindernisse mehr entgegenstehen.
Was der neuen Zeit im hohen Norden noch in der Hauptsache fehlt, das
sind interne Verkehrslinien und Siedelungszentren, von denen aus das Land
urbar gemacht werden kann. Aber auch in dieser Hinsicht stösst man
überall auf die Pionierarbeit einer neuen Zeit. Es sei verwiesen auf
die Bestrebungen eines regelmässigen Schiffahrtsverkehrs vom Jenissei
und Ob nach nordeuropäischen Gewässern, sowie auf die neue Schiffahrtslinie
von der Hudsonbucht nach dem nordatlantischen Ozean und nach den östlichen
Teilen der Neoarktis. Bisher gab es nur jeden Sommer Vergnügungsfahrten
nach Spitzbergen. Grönland ist immer noch ein geschlossenes Land geblieben.
Dagegen machen sich in Nordamerika im Westen und Osten Bestrebungen zum
Ausbau von Dampferlinien bis in den hohen Norden bemerkbar, so z. B. vom
Nome nach Point Barrow und der Herschelinsel. Auf dem Mackenzie verkehren
schon seit Jahren regelmässig Postdampfer, und Postfluglinien durchziehen
bereits grosse Teile Kanadas bis weit in den Norden. Ja, heute ist es möglich
verhältnismässig bequem mit Frau und Kind bis nach Ellesmereland
zu reisen. In sehr anschaulicher Weise berichtet COLIN Ross über seine
Fahrt im Sommer 1933 mit dem Eisbrecher «Nascopie» längs
der Ostküste von Baffinland bis an Smithsund.
Wenn die Krise, in der wir zur Zeit stehen, weiter andauert, so dürfte
sie diese Entwicklung beschleunigen und aus den übervölkerten
Ländern Europas einen Zuwanderungsstrom junger Kräfte veranlassen.
Besonders in Kanada ist die Zivilisation in vollem Marsch nach Norden begriffen.
Auf breitester Front dringen die Pioniere der neuen Zeit unaufhaltsam vor.
Im bisher nahezu menschenleeren Raum entstehen neue Siedelungen. Es sind
ebenso viele Stützpunkte der im Vormarsch begriffenen Kultur des weissen
Mannes zur Eroberung der «unwirtlichen» Polarländer.
An der Westküste der Hudsonbay ist Churchill (ca. 59°N.) eine
im Entstehen begriffene Stadt. Durch eine Bahnlinie von rund 800 km Länge
ist sie bereits mit der nordkanadischen Pazifikbahn verbunden. Ein an einen
Wolkenkratzer erinnernder, mächtiger Elevator und Getreidesilos beherrschen
weithin das völlig flache Tiefland. Bereits ist der zur Zeit noch
weltverlassene Getreidehafen jeden Sommer vom Mai bis in Oktober durch
einen regelmässigen Dampferverkehr mit der übrigen Welt verbunden.
Die Schiffe legen am kürzlich erstellten Hafendamm an. Obwohl nur
aus wenigen Wohnhäusern bestehend, ist Churchill schon Residenz des
ersten Bischofs der amerikanischen Arktis. Auch die Kirche hat somit die
Zeichen der Zeiten erkannt. Seit zwanzig Jahren hat Kanada bis Nord-Devon
und bis an die Südküste von Ellesmereland Polizeistationen errichtet,
so im Jahre 1913 bei Kap Wolstenholme am Eingang in die Hudsonstrasse;
1915 entstand die Station Port Burwell an der Nordspitze Labradors, 1920
wurde Port Harns auf Baffinland, 1921 die kleinen Siedelungen von Pangnirtung
und Pondsinlet gegründet, 1923 diejenige von Clyde an der Nordspitze
von Baffinland. Noch nicht völlig sichergestellt ist Craig Harbour
am Jonessund an der Südküste von Ellesmereland und Bache (1923
-1926) an der Westküste des Smithsundes. Mit 79° N. ist dies zur
Zeit die nördlichste Siedlung der Erde, sogar etwas nördlicher
gelegen als die reine Eskimosiedelung Etah (78°20'N), die bisher diesen
Rang inne hatte. Die nördlichste Europäersiedelung Westgrönlands
war bis vor kurzer Zeit Upernivik (72°47'N). Jetzt ist es Thule, eine
Eskimosiedelung und Handelsstation bei 76°40'N. Der Rest ist bereits
Geschichte. KNUT RASMUSSEN hat eine ältere Kulturschicht der Eskimo
nachgewiesen und sie als Thulekultur bezeichnet. Am Ausgang des Skoresbysundes
in Ostgrönland ...