NGZ-Neujahrsblatt 1949, 62 Seiten, 151.Stück, ohne Abbildungen
Die Entwicklung der Zürcher Naturwissenschaften
und ihr Aufschwung durch den Geist von 1848
Bernhard Milt

(Zugegeben, es ist eine einzige Bleiwüste, aber eine Vergnügliche!)

1.
Geist von 1848 und Entwicklung der Naturwissenschaften in Zürich - wird nicht manchem Leser leicht unbehaglich bei diesem Thema? Der Geist von 1848 war ein politischer Geist, und die Frage, die hier aufgerollt wird, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen einer bestimmten politischen Konzeption und der Entwicklung einer Wissenschaft und damit die Frage nach dem Zusammenhang von Politik und Wissenschaft überhaupt. Wird sich nicht mancher Leser sagen, über diesen Zusammenhang sei man nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte belehrt, mehr als belehrt. Man habe es erfahren, was aus der Wissenschaft werde, wenn die Politik sie in ihren Dienst spanne, wenn sie ihr politische, wissenschaftsfremde Ziele gebe. Wo ein Zusammenhang zwischen Politik und Wissenschaft hergestellt werde, sei das Resultat stets eine verpolitisierte Wissenschaft, eine Wissenschaft, die nicht mehr ihrem eigenen, innern Entwicklungsgesetz folgen dürfe und darum naturnotwendig verkümmere. Politik könne die Wissenschaft zwar hemmen und in Fesseln legen, aber niemals fördern.
Gegen ein solches Raisonnement erheben sich freilich sofort Bedenken und Einwände, weil Aspekt und Wertung zu einseitig sind. Wenn es schon richtig ist, dass sich eine Wissenschaft nur dann gedeihlich entwickeln kann, wenn sie ihrem eigenen, innern Entwicklungsgesetz folgen darf, so ist der Gang dieser Entwicklung immerhin nicht nur von geistigen Faktoren abhängig. Niemand wird bestreiten, dass ein politisches Regime durch Fördern und Versagen von institutionellen Einrichtungen und Forschungsmöglichkeiten die Entwicklung vorab der Naturwissenschaften begünstigen und hindern kann. Da, wenigstens heute, in der Regel nur der Staat in der Lage ist, solche Institutionen zu schaffen und zu unterhalten, ist ein Zusammenhang zwischen Politik und Wissenschaft schon in dieser Beziehung fraglos gegeben. Aber das ist nicht der einzige Bezug. Forschungsstätten haben keinen grossen Nutzen, wenn nicht Bildungsinstitutionen vorhanden sind, an denen Forscher herangebildet werden. Wo solche fehlen, sind wohl wissenschaftliche Leistungen Einzelner möglich; aber sie bleiben ohne Folgen und haben keine Entwicklungsmöglichkeit. Über Bildungstypus und Bildungsinstitution entscheidet aber nie die Wissenschaft, sondern, vorab heute, der Staat und damit die Politik. Es gibt kein ideologisch fundiertes politisches Regime, das ungestraft darauf verzichten könnte, den Bildungstypus in irgendeiner Form seiner Ideologie adäquat zu gestalten. Im Unterlassungsfall wird es von innen her ausgehöhlt und geht daran zugrunde. Auch für diese Tatsache haben uns die letzten dreissig Jahre die Augen gründlich geöffnet. Gerade auf dem Gebiet von Schule und Volksbildung werden die politisch-ideologischen Kämpfe am unerbittlichsten und härtesten ausgefochten; auf keinem andern Gebiet sind sie spannungsreicher als auf diesem, weil es dabei für beide Teile um Gewinn oder Verlust der Volksseele geht. Was aber könnte für die Entwicklung einer Wissenschaft bedeutsamer sein als die durch einen bestimmten Bildungstypus bedingte Denkformation?
Und endlich ein letztes. Weder Politik noch Wissenschaft sind ausser-menschliche Gegebenheiten; beide sind menschliche Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten und werden von Menschen gemacht. Es sind vielfach dieselben Persönlichkeiten, die Wissenschaft und Politik treiben. In einer bestimmten Epoche sind häufig sowohl die Wissenschaft wie die Politik der spezifische Ausdruck derselben zeitbedingten geistigen Situation, und aus der Einheit dieser geistigen Situation ergibt sich von neuem eine innere Beziehung und ein Zusammenhang. Auf jeden Fall steht eines fest: Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft lässt sich nicht auf den einfachen Nenner von freier oder verpolitisierter Wissenschaft bringen; es ist sehr komplexer und komplizierter Natur. Auf den folgenden Blättern soll vorab der Versuch gemacht werden, diesen Zusammenhängen für die Epoche von 1848 nachzuspüren, aufzuzeigen, wie der Geist jener Zeit, in der aus dem schweizerischen Staatenbund ein schweizerischer Bundesstaat geworden ist, gerade auch die Entwicklung der zürcherischen Naturwissenschaft beeinflusst hat.

II.
Ein solcher Versuch setzt zum bessern Verständnis eine gewisse Kenntnis der Verhältnisse früherer Zeiten voraus, da erst auf diesem Hintergrund eine gerechte Würdigung der Leistungen möglich ist. Jede Kulturgeschichte hat vom jeweiligen Kulturträger auszugehen, wie eine politisch-militärische Geschichtsschreibung vom Träger der politisch-militärischen Macht auszugehen hat. Daraus ergeben sich Parallelen und Divergenzen der Kultur- und Staatengeschichte; denn nur ausnahmsweise ist der Kulturträger gleichzeitig auch der Träger der politisch-militärischen Macht. Jeder historische Ablauf setzt nicht nur einen tragenden menschlich-soziologischen Faktor voraus, sondern er spielt sich in Zeit und Raum ab und ist damit zeitlich und geographisch begrenzt. Da auch diese Gegebenheiten kulturgeschichtlich und staatsgeschichtlich nur ausnahmsweise miteinander übereinstimmen, ergeben sich meist weitere Divergenzen. Weil aber andrerseits sowohl die politische wie die kulturelle Entwicklung abhängig sind von den gleichzeitigen wirtschaftlichen und soziologischen Verhältnissen, die in einem bestimmten Zeitpunkt stets nur eine beschränkte Zahl von Realisierungsmöglichkeiten zulassen, finden sich auch parallele und konvergierende Momente.
...

(Nun folgen Ausführungen über - die Vorgeschichte, ohne welche Einiges unverständlich bleiben müsste. - Die Reformen während der Helvetik, welche bleibende Wirkungen auf die Volksschule hatte. - den beliebten (und geschäftstüchtigen) Seminarleiter Scherr, - die Rolle der Konservativen (welche die Volksschullehrer gegen sich einnahmen), sowie auch der Radikalen und darunter des Bildungsdirektors Alfred Escher, welcher unter anderem das Primat der Politik/Gesellschaft an der Universität durchsetzte. Über deutsche Gäste (insbesondere Ockenfuss, alias Oken, dem ersten Rektor und streitbaren Nach-Erfinder des Wirbelschädels und des Os intermaxillare).- Oswald Heer und Arnold Escher ...  Bernhard Milt vertritt die Auffassung, dass ohne Alfred Escher weder Universität noch das Polytechnikum in Zürich entstanden wären.)

...
Von den Träumen von 1798 zur Vollbringung nach fünfzig Jahren fuhrt eine trotz einigen Intermezzos ungebrochene Linie. Und doch, wie manches hatte sich geistig in dieser Zeit geändert. Für JOHANNES GESSNER und seine Schüler war naturwissenschaftliche Forschung und naturwissenschaftlicher Unterricht noch weitgehend eine Form von Theologia naturalis gewesen; aus der Schöpfung sollte der Schöpfer erkannt und geliebt werden. Mit dem ganz auf Gemeinnützigkeit eingestellten Ethos änderte sich auch das Bildungsideal und das Bildungsziel; es wurde auf den Menschen ausgerichtet. PAUL USTERI sah in einer Rede von 1828 den Bildungszweck darin, den Menschen zu seiner Bestimmung, ein Ebenbild Gottes zu sein, zu führen. ESCHER erblickte die Aufgabe der Bildung in der säkularen Befähigung, Welt und Umwelt, die Zeit zu verstehen. Alle drei Männer waren vollkommene Vertreter ihrer Zeit, ein gültiger Ausdruck derselben. ALBRECHT von HALLER war in unserm Land auf dieser Bahn vorangeschritten; schon er hatte Metaphysik und Weltanschauung von Naturwissenschaft vollkommen getrennt, unbeschadet seiner stark religiösen Anlage. Auch OSWALD HEER, ALBERT MOUSSON und ARNOLD ESCHER von der LINTH waren tief religiöse Naturen; ihre Art der Naturforschung war aber völlig objektbezogen, diesseitig, in keiner Weise verschieden von derjenigen völlig areligiöser Naturforscher. Der Versuch, materialistische Weltanschauung mit Naturwissenschaft zu verquicken, den etwa der menschlich so gütige und bezaubernde HAECKEL unternommen hatte, erschien dabei wie ein Rückfall, der wohl von den meisten Naturforschern wieder aufgegeben wurde. Die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in Leben und Natur blieb das einigende Band, es jedem Naturforscher überlassend, wie er mit diesen Fragen persönlich fertig werden wolle. Die Naturwissenschaft hatte sich auf ihr Wesen und ihre eigentliche Aufgabe besonnen. Möge sie diesem Grundsatz treu bleiben.

VI.
Mancher Leser findet vielleicht, das hier gezeichnete Bild sei in manchen Teilen reichlich subjektiv geraten; der Verfasser will das nicht bestreiten. Er hat es so wiedergegeben, wie er es gesehen hat und ist sich klar, dass ein anderer vieles anders gesehen und die Farben anders verteilt hätte. Was diese Arbeit darstellen wollte, war der Wandel des Geistes der Naturwissenschaft in der zürcherischen Kulturgeschichte. Geist lässt sich weder in Zahlen, noch Massen noch Gewichten einfangen, weder quellenkritisch noch chronologisch zur Darstellung bringen. Jeder, der eine solche Schilderung versucht, muss von seiner zeitgebundenen persönlichen Bewusstseinslage ausgehen; über seinen Schatten springt keiner. Eine objektiv gültige Darstellung einer solchen Entwicklungsgeschichte gibt es nicht; jede Zeit wird sich auf ihre Weise mit diesem Problem auseinandersetzen müssen, von ihrem besondern und einmaligen Standpunkt aus. Was bleiben wird, ist das ewige Bedürfnis, sich auf die eigene Vergangenheit als lebendige Vergangenheit zu besinnen.
Auch ein zweiter Einwurf drängt sich vielleicht auf: wenn schon die Einwirkung des Geistes von 1848 auf die Entwicklung der Zürcher Naturwissenschaft dargestellt werden sollte, war es denn nötig, so weit auszuholen, schon im 13. Jahrhundert mit der Schilderung zu beginnen und einen so grossen Platz der Vorgeschichte einzuräumen? Auch der Verfasser hatte ernste Bedenken, stellte sie aber schliesslich zurück. Der Geist von 1848 ist schon 1798 zum Leben erwacht. Die einmalige Epoche der achtundvierziger Jahre hebt sich auf ihrem jahrhundertealten Geschichtsgrund leuchtender und klarer ab, als das bei irgendeiner isolierten zeitgeschichtlichen Darstellung der Fall gewesen wäre. Mehr noch: erst auf diesem Hintergrund erweist sich ihre Einmaligkeit und Grösse.
Missfallen mag bei manchem Leser auch die Verherrlichung ALFRED ESCHER'S hervorrufen. Diese ergab sich nicht aus einer Vorliebe des Verfassers für diese Gestalt. Zu seiner eigenen Beschämung musste er während der Beschäftigung mit dieser Arbeit immer wieder feststellen, wie leichtfertig auch er manch schiefes Urteil über diesen grossen Mann gedankenlos nachgeplappert hat. ESCHER's Persönlichkeit steht heute in weiten Kreisen auch seiner Heimatstadt nicht hoch im Kurs. Er ist der repräsentative und stellvertretende Sündenbock aller tatsächlichen und vermeintlichen kapitalistischen Fehlleistungen seiner Zeit. Auch hier glaubte der Verfasser, das Bild so zeichnen zu müssen, wie es sich in diesem Zusammenhang gerade ihm dargeboten hall. Mehr von der Parteien Hass als Gunst bestimmt, hat sich unsere Zeit ihr eigenes Escherbild gemacht. Aber auch dieses Bild kann sich wieder ändern und hat kein Anrecht, objektive Gültigkeit zu beanspruchen. Das Mittelmass ist seit seinem Sturz dermassen zur Herrschaft gelangt, dass es wohl möglich erscheint, dass eine andere Zeit für Grösse wieder mehr Verständnis und Wohlwollen aufbringt. Sie würde damit nur einem biogenetischen Grundgesetz folgen: auch GOTTFRIED KELLER war zu Zeiten ein heftiger Gegner ESCHER's, der ausser Geld anscheinend keine anderen Werte kannte, um nach dessen Tod zu gestehen: «Bedürfte sein (Gedenk-)Stein einer weitern Inschrift als derjenigen seines Namens, so liesse sich eingraben: Dem Mann, der mit Geistestreue und eigenster Arbeit sich selbst Pflicht auf Pflichten schuf und, sie erfüllend, wirkend und führend seine Tage hinbrachte, die Nächte opferte und das Augenlicht.» Wenn dem Verfasser gerade am Beispiel ALFRED ESCHER's während seiner Arbeit etwas klar wurde, dann dies: Nur derjenige Politiker und nur derjenige Regierungsvertreter wird die Wissenschaft fördern, der sich als Politiker und als Regierungsvertreter gleich leidenschaftlich in ihren Dienst stellt, wie der Wissenschafter selber. Den Ruhm, das getan zu haben, wird keine Zeit ALFRED ESCHER absprechen können.
Der grösste Nachteil und Mangel der vorliegenden Darstellung besteht in des Verfassers Augen darin, dass dieses zürcherische Geschehen zu sehr als lokales Geschehen dargestellt werden musste, dass zu wenig daraus hervorgeht, dass es nur der lokale Ausdruck viel allgemeineren Geschehens war. Erst in diesem Zusammenhang wäre ein rechtes Verständnis und eine gerechte Bewertung möglich. Isoliert dargestellter Lokalgeschichte, auch der kulturhistorischen und gerade ihr, fehlt der vergleichende Maßstab; erst im Bezug zum allgemeinen Geschehen kann sich ein Dimensionsbegriff entwickeln. Diese Aufgabe muss der Leser selber lösen; der Verfasser konnte ihr auf dem ihm zur Verfügung stehenden Raum nicht gerecht werden.

(Zum Schluss folgen noch ein Literaturverzeichnis und ein Personenverzeichnis mit 163 Namen.)

Home  Liste der Neujahrsblätter