(Zugegeben, es ist eine einzige Bleiwüste, aber eine Vergnügliche!)
1.
Geist von 1848 und Entwicklung der Naturwissenschaften in Zürich
- wird nicht manchem Leser leicht unbehaglich bei diesem Thema? Der Geist
von 1848 war ein politischer Geist, und die Frage, die hier aufgerollt
wird, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen einer bestimmten politischen
Konzeption und der Entwicklung einer Wissenschaft und damit die Frage nach
dem Zusammenhang von Politik und Wissenschaft überhaupt. Wird sich
nicht mancher Leser sagen, über diesen Zusammenhang sei man nach den
Erfahrungen der letzten Jahrzehnte belehrt, mehr als belehrt. Man habe
es erfahren, was aus der Wissenschaft werde, wenn die Politik sie in ihren
Dienst spanne, wenn sie ihr politische, wissenschaftsfremde Ziele gebe.
Wo ein Zusammenhang zwischen Politik und Wissenschaft hergestellt werde,
sei das Resultat stets eine verpolitisierte Wissenschaft, eine Wissenschaft,
die nicht mehr ihrem eigenen, innern Entwicklungsgesetz folgen dürfe
und darum naturnotwendig verkümmere. Politik könne die Wissenschaft
zwar hemmen und in Fesseln legen, aber niemals fördern.
Gegen ein solches Raisonnement erheben sich freilich sofort Bedenken
und Einwände, weil Aspekt und Wertung zu einseitig sind. Wenn es schon
richtig ist, dass sich eine Wissenschaft nur dann gedeihlich entwickeln
kann, wenn sie ihrem eigenen, innern Entwicklungsgesetz folgen darf, so
ist der Gang dieser Entwicklung immerhin nicht nur von geistigen Faktoren
abhängig. Niemand wird bestreiten, dass ein politisches Regime durch
Fördern und Versagen von institutionellen Einrichtungen und Forschungsmöglichkeiten
die Entwicklung vorab der Naturwissenschaften begünstigen und hindern
kann. Da, wenigstens heute, in der Regel nur der Staat in der Lage ist,
solche Institutionen zu schaffen und zu unterhalten, ist ein Zusammenhang
zwischen Politik und Wissenschaft schon in dieser Beziehung fraglos gegeben.
Aber das ist nicht der einzige Bezug. Forschungsstätten haben keinen
grossen Nutzen, wenn nicht Bildungsinstitutionen vorhanden sind, an denen
Forscher herangebildet werden. Wo solche fehlen, sind wohl wissenschaftliche
Leistungen Einzelner möglich; aber sie bleiben ohne Folgen und haben
keine Entwicklungsmöglichkeit. Über Bildungstypus und Bildungsinstitution
entscheidet aber nie die Wissenschaft, sondern, vorab heute, der Staat
und damit die Politik. Es gibt kein ideologisch fundiertes politisches
Regime, das ungestraft darauf verzichten könnte, den Bildungstypus
in irgendeiner Form seiner Ideologie adäquat zu gestalten. Im Unterlassungsfall
wird es von innen her ausgehöhlt und geht daran zugrunde. Auch für
diese Tatsache haben uns die letzten dreissig Jahre die Augen gründlich
geöffnet. Gerade auf dem Gebiet von Schule und Volksbildung werden
die politisch-ideologischen Kämpfe am unerbittlichsten und härtesten
ausgefochten; auf keinem andern Gebiet sind sie spannungsreicher als auf
diesem, weil es dabei für beide Teile um Gewinn oder Verlust der Volksseele
geht. Was aber könnte für die Entwicklung einer Wissenschaft
bedeutsamer sein als die durch einen bestimmten Bildungstypus bedingte
Denkformation?
Und endlich ein letztes. Weder Politik noch Wissenschaft sind ausser-menschliche
Gegebenheiten; beide sind menschliche Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten
und werden von Menschen gemacht. Es sind vielfach dieselben Persönlichkeiten,
die Wissenschaft und Politik treiben. In einer bestimmten Epoche sind häufig
sowohl die Wissenschaft wie die Politik der spezifische Ausdruck derselben
zeitbedingten geistigen Situation, und aus der Einheit dieser geistigen
Situation ergibt sich von neuem eine innere Beziehung und ein Zusammenhang.
Auf jeden Fall steht eines fest: Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft
lässt sich nicht auf den einfachen Nenner von freier oder verpolitisierter
Wissenschaft bringen; es ist sehr komplexer und komplizierter Natur. Auf
den folgenden Blättern soll vorab der Versuch gemacht werden, diesen
Zusammenhängen für die Epoche von 1848 nachzuspüren, aufzuzeigen,
wie der Geist jener Zeit, in der aus dem schweizerischen Staatenbund ein
schweizerischer Bundesstaat geworden ist, gerade auch die Entwicklung der
zürcherischen Naturwissenschaft beeinflusst hat.
II.
Ein solcher Versuch setzt zum bessern Verständnis eine gewisse
Kenntnis der Verhältnisse früherer Zeiten voraus, da erst auf
diesem Hintergrund eine gerechte Würdigung der Leistungen möglich
ist. Jede Kulturgeschichte hat vom jeweiligen Kulturträger auszugehen,
wie eine politisch-militärische Geschichtsschreibung vom Träger
der politisch-militärischen Macht auszugehen hat. Daraus ergeben sich
Parallelen und Divergenzen der Kultur- und Staatengeschichte; denn nur
ausnahmsweise ist der Kulturträger gleichzeitig auch der Träger
der politisch-militärischen Macht. Jeder historische Ablauf setzt
nicht nur einen tragenden menschlich-soziologischen Faktor voraus, sondern
er spielt sich in Zeit und Raum ab und ist damit zeitlich und geographisch
begrenzt. Da auch diese Gegebenheiten kulturgeschichtlich und staatsgeschichtlich
nur ausnahmsweise miteinander übereinstimmen, ergeben sich meist weitere
Divergenzen. Weil aber andrerseits sowohl die politische wie die kulturelle
Entwicklung abhängig sind von den gleichzeitigen wirtschaftlichen
und soziologischen Verhältnissen, die in einem bestimmten Zeitpunkt
stets nur eine beschränkte Zahl von Realisierungsmöglichkeiten
zulassen, finden sich auch parallele und konvergierende Momente.
...
(Nun folgen Ausführungen über - die Vorgeschichte, ohne welche Einiges unverständlich bleiben müsste. - Die Reformen während der Helvetik, welche bleibende Wirkungen auf die Volksschule hatte. - den beliebten (und geschäftstüchtigen) Seminarleiter Scherr, - die Rolle der Konservativen (welche die Volksschullehrer gegen sich einnahmen), sowie auch der Radikalen und darunter des Bildungsdirektors Alfred Escher, welcher unter anderem das Primat der Politik/Gesellschaft an der Universität durchsetzte. Über deutsche Gäste (insbesondere Ockenfuss, alias Oken, dem ersten Rektor und streitbaren Nach-Erfinder des Wirbelschädels und des Os intermaxillare).- Oswald Heer und Arnold Escher ... Bernhard Milt vertritt die Auffassung, dass ohne Alfred Escher weder Universität noch das Polytechnikum in Zürich entstanden wären.)
...
Von den Träumen von 1798 zur Vollbringung nach fünfzig Jahren
fuhrt eine trotz einigen Intermezzos ungebrochene Linie. Und doch, wie
manches hatte sich geistig in dieser Zeit geändert. Für JOHANNES
GESSNER und seine Schüler war naturwissenschaftliche Forschung und
naturwissenschaftlicher Unterricht noch weitgehend eine Form von Theologia
naturalis gewesen; aus der Schöpfung sollte der Schöpfer erkannt
und geliebt werden. Mit dem ganz auf Gemeinnützigkeit eingestellten
Ethos änderte sich auch das Bildungsideal und das Bildungsziel; es
wurde auf den Menschen ausgerichtet. PAUL USTERI sah in einer Rede von
1828 den Bildungszweck darin, den Menschen zu seiner Bestimmung, ein Ebenbild
Gottes zu sein, zu führen. ESCHER erblickte die Aufgabe der Bildung
in der säkularen Befähigung, Welt und Umwelt, die Zeit zu verstehen.
Alle drei Männer waren vollkommene Vertreter ihrer Zeit, ein gültiger
Ausdruck derselben. ALBRECHT von HALLER war in unserm Land auf dieser Bahn
vorangeschritten; schon er hatte Metaphysik und Weltanschauung von Naturwissenschaft
vollkommen getrennt, unbeschadet seiner stark religiösen Anlage. Auch
OSWALD HEER, ALBERT MOUSSON und ARNOLD ESCHER von der LINTH waren tief
religiöse Naturen; ihre Art der Naturforschung war aber völlig
objektbezogen, diesseitig, in keiner Weise verschieden von derjenigen völlig
areligiöser Naturforscher. Der Versuch, materialistische Weltanschauung
mit Naturwissenschaft zu verquicken, den etwa der menschlich so gütige
und bezaubernde HAECKEL unternommen hatte, erschien dabei wie ein Rückfall,
der wohl von den meisten Naturforschern wieder aufgegeben wurde. Die Ehrfurcht
vor dem Unerforschlichen in Leben und Natur blieb das einigende Band, es
jedem Naturforscher überlassend, wie er mit diesen Fragen persönlich
fertig werden wolle. Die Naturwissenschaft hatte sich auf ihr Wesen und
ihre eigentliche Aufgabe besonnen. Möge sie diesem Grundsatz treu
bleiben.
VI.
Mancher Leser findet vielleicht, das hier gezeichnete Bild sei in manchen
Teilen reichlich subjektiv geraten; der Verfasser will das nicht bestreiten.
Er hat es so wiedergegeben, wie er es gesehen hat und ist sich klar, dass
ein anderer vieles anders gesehen und die Farben anders verteilt hätte.
Was diese Arbeit darstellen wollte, war der Wandel des Geistes der Naturwissenschaft
in der zürcherischen Kulturgeschichte. Geist lässt sich weder
in Zahlen, noch Massen noch Gewichten einfangen, weder quellenkritisch
noch chronologisch zur Darstellung bringen. Jeder, der eine solche Schilderung
versucht, muss von seiner zeitgebundenen persönlichen Bewusstseinslage
ausgehen; über seinen Schatten springt keiner. Eine objektiv gültige
Darstellung einer solchen Entwicklungsgeschichte gibt es nicht; jede Zeit
wird sich auf ihre Weise mit diesem Problem auseinandersetzen müssen,
von ihrem besondern und einmaligen Standpunkt aus. Was bleiben wird, ist
das ewige Bedürfnis, sich auf die eigene Vergangenheit als lebendige
Vergangenheit zu besinnen.
Auch ein zweiter Einwurf drängt sich vielleicht auf: wenn schon
die Einwirkung des Geistes von 1848 auf die Entwicklung der Zürcher
Naturwissenschaft dargestellt werden sollte, war es denn nötig, so
weit auszuholen, schon im 13. Jahrhundert mit der Schilderung zu beginnen
und einen so grossen Platz der Vorgeschichte einzuräumen? Auch der
Verfasser hatte ernste Bedenken, stellte sie aber schliesslich zurück.
Der Geist von 1848 ist schon 1798 zum Leben erwacht. Die einmalige Epoche
der achtundvierziger Jahre hebt sich auf ihrem jahrhundertealten Geschichtsgrund
leuchtender und klarer ab, als das bei irgendeiner isolierten zeitgeschichtlichen
Darstellung der Fall gewesen wäre. Mehr noch: erst auf diesem Hintergrund
erweist sich ihre Einmaligkeit und Grösse.
Missfallen mag bei manchem Leser auch die Verherrlichung ALFRED ESCHER'S
hervorrufen. Diese ergab sich nicht aus einer Vorliebe des Verfassers für
diese Gestalt. Zu seiner eigenen Beschämung musste er während
der Beschäftigung mit dieser Arbeit immer wieder feststellen, wie
leichtfertig auch er manch schiefes Urteil über diesen grossen Mann
gedankenlos nachgeplappert hat. ESCHER's Persönlichkeit steht heute
in weiten Kreisen auch seiner Heimatstadt nicht hoch im Kurs. Er ist der
repräsentative und stellvertretende Sündenbock aller tatsächlichen
und vermeintlichen kapitalistischen Fehlleistungen seiner Zeit. Auch hier
glaubte der Verfasser, das Bild so zeichnen zu müssen, wie es sich
in diesem Zusammenhang gerade ihm dargeboten hall. Mehr von der Parteien
Hass als Gunst bestimmt, hat sich unsere Zeit ihr eigenes Escherbild gemacht.
Aber auch dieses Bild kann sich wieder ändern und hat kein Anrecht,
objektive Gültigkeit zu beanspruchen. Das Mittelmass ist seit seinem
Sturz dermassen zur Herrschaft gelangt, dass es wohl möglich erscheint,
dass eine andere Zeit für Grösse wieder mehr Verständnis
und Wohlwollen aufbringt. Sie würde damit nur einem biogenetischen
Grundgesetz folgen: auch GOTTFRIED KELLER war zu Zeiten ein heftiger Gegner
ESCHER's, der ausser Geld anscheinend keine anderen Werte kannte, um nach
dessen Tod zu gestehen: «Bedürfte sein (Gedenk-)Stein einer
weitern Inschrift als derjenigen seines Namens, so liesse sich eingraben:
Dem Mann, der mit Geistestreue und eigenster Arbeit sich selbst Pflicht
auf Pflichten schuf und, sie erfüllend, wirkend und führend seine
Tage hinbrachte, die Nächte opferte und das Augenlicht.» Wenn
dem Verfasser gerade am Beispiel ALFRED ESCHER's während seiner Arbeit
etwas klar wurde, dann dies: Nur derjenige Politiker und nur derjenige
Regierungsvertreter wird die Wissenschaft fördern, der sich als Politiker
und als Regierungsvertreter gleich leidenschaftlich in ihren Dienst stellt,
wie der Wissenschafter selber. Den Ruhm, das getan zu haben, wird keine
Zeit ALFRED ESCHER absprechen können.
Der grösste Nachteil und Mangel der vorliegenden Darstellung besteht
in des Verfassers Augen darin, dass dieses zürcherische Geschehen
zu sehr als lokales Geschehen dargestellt werden musste, dass zu wenig
daraus hervorgeht, dass es nur der lokale Ausdruck viel allgemeineren Geschehens
war. Erst in diesem Zusammenhang wäre ein rechtes Verständnis
und eine gerechte Bewertung möglich. Isoliert dargestellter Lokalgeschichte,
auch der kulturhistorischen und gerade ihr, fehlt der vergleichende Maßstab;
erst im Bezug zum allgemeinen Geschehen kann sich ein Dimensionsbegriff
entwickeln. Diese Aufgabe muss der Leser selber lösen; der Verfasser
konnte ihr auf dem ihm zur Verfügung stehenden Raum nicht gerecht
werden.
(Zum Schluss folgen noch ein Literaturverzeichnis und ein Personenverzeichnis mit 163 Namen.)