NGZ-Neujahrsblatt 1950, 131 Seiten, mit 87 Abbildungen
Goethes Wirbeltheorie des Schädels
Bernhard Peyer
 
os intermaxillare, os incisivum, Ape and  Man
Abb. 6 Verkleinerte Wiedergabe von Tafel V der Zwischenkieferarbeit von J. W. Goethe. 1. Schädel eines Affen von vorn und von unten gesehen. 2. rechter Oberkiefer des Menschen, Innenansicht. Aus J. W. Goethe 1830
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Inhaltsverzeichnis
     Vorwort
I. Goethe's Studien über die Morphologie des Schädels
II.  Schädelmorphologische Arbeiten von Zeitgenossen Goethe's
III  Rückblick
IV.  Die Zeit von Goethe's Tod bis zu Th. H. Huxley's Croonian Lecture (1858) 
V.  Die Entwicklung der Schädelmorphologie vom Jahre 1859 bis zur
     Gegenwart 
     VI.  Einführung in die Morphologie des Wirbeltierkopfes
     VII.  Wirbeltiere und Gliedertiere
     VIII.  Bau und Entwicklung des Wirbeltierschädels 
       1.  Amphioxus 
       2.  Jetztlebende und fossile Cyclostomen
3.  Cyclostomen - Gnathostomen 
       4.  Pisces 
       5.  Der Übergang von der Kiemenatmung zur Lungenatmung
       6.  Fossile und jetztlebende Amphibien 
       7.  Fossile und jetztlebende Reptilien
       8.  Fossile und jetztlebende Vögel
       9.  Fossile und jetztlebende Säugetiere
     IX.  Bau und Funktion
     X.  Der Schädel des Menschen
     XI.  Rückblick und Ausblick 
       Anmerkungen
       Literaturverzeichnis 
Vorwort
Das Jahr 1949 steht im Zeichen Goethe's, denn es sind nunmehr 200 Jahre vergangen, seit er das Licht der Welt erblickte. In den vielen Veranstaltungen, die bei Anlass dieses Bicentenariums abgehalten worden sind, wurde nicht nur der Dichter gefeiert, sondern es wurde auch seine Tätigkeit als Naturforscher gewürdigt, in Zürich insbesondere durch Paul Niggli und durch Hans Fischer. Diese beiden tiefgründigen Darstellungen umfassen das Gesamtgebiet von Goethe's naturwissenschaftlicher Tätigkeit. Unser Neujahrsblatt behandelt nur Goethe's Studium der Morphologie des Schädels. Die Beschränkung auf dieses Teilgebiet ergab sich aus folgenden Gründen: An trefflichen Gesamtdarstellungen von Goethe's biologischen Forschungen fehlt es nicht, wohl aber an einem allgemein verständlichen geschichtlichen Überblick, der zeigt, warum der Goetheschen Wirbeltheorie des Schädels in ihrer ursprünglichen Form nur ein vorübergehender Erfolg beschieden sein konnte, wie sie überwunden wurde, wie dann an ihrer Stelle vielseitig begründete, vertiefte Einsicht in den metameren Aufbau des Kopfes trat und wie damit der innerste Kern von Goethe's grossem Gedanken Bestätigung gefunden hat.
In allgemein verständlicher Weise liessen sich diese Fragen nur darstellen, wenn dem Texte die notwendige Zahl von Abbildungen beigegeben werden konnten. Daran drohte die Ausführung des Vorhabens deswegen zu scheitern, weil eine hinreichend illustrierte Publikation die im Budget unserer Gesellschaft für ein Neujahrsblatt zur Verfügung stehende Summe bei weitem überschritten haben würde.
Dass die Absicht trotzdem verwirklicht werden konnte, ist einer hochherzigen Unterstützung von Seiten der Georges und Antoine Claraz Schenkung zu verdanken. Der Verfasser möchte nicht verfehlen, an dieser Stelle dem Präsidenten des Kuratoriums der genannten Schenkung, Herrn Dr. W. Zollinger, sowie dem Vizepräsidenten, Herrn alt Rektor Prof. Dr. G. Geilinger, für die wohlwollende Behandlung seines an das Kuratorium gerichteten Gesuches und ebenso dem Gesamtkuratorium für die Genehmigung aufs beste zu danken.
Für die Ausführung der zeichnerischen Arbeiten bin ich Herrn J. Mayer-Gräter  zu Dank verpflichtet. Der hohen Kosten wegen musste von einer Beigabe von farbigen Abbildungen, wie sie in mehreren Lehrbüchern und Handbüchern der Schädelmorphologie zur Verwendung gelangten, abgesehen werden. Es bedurfte besonderer zeichnerischer Anstrengungen, um auch ohne Anwendung verschiedener Farben die hervorzuhebenden Differenzen in übersichtlicher Weise zum Ausdruck zu bringen. Für mannigfache Hilfe beim Abschluss dieser Arbeit, die infolge eines längeren Spitalaufenthaltes mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war, habe ich sodann meinem getreuen Mitarbeiter P.-D. Dr. E. Kuhn zu danken.      -  Zürich (Klinik Hirslanden), im Oktober 1949.  Bernhard Peyer

Zur Wirbeltheorie Goethes:
«Welche Reihe von Anschauungen und Nachdenken verfolgte ich nicht, bis die Idee der Pflanzenmorphose in mir aufging, wie solches meine Italien-Reise den Freunden vertraute. Ebenso war es mit dem Begriff, dass der Schädel aus Wirbelknochen bestehe. Die drei hintersten erkannt ich bald, aber erst im Jahr 1790, als ich aus dem Sande des dünenhaften Judenkirchhofs von Venedig einen zerschlagenen Schöpsenkopf aufhob, gewahrt ich augenblicklich, dass die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seien, indem ich den Übergang vom ersten Flügelbeine zum Siebbeine und den Muscheln ganz deutlich vor Augen sah (vgl. Abb. 12); da hatt ich denn das Ganze im Allgemeinsten beisammen. So viel möge diesmal das früher Geleistete aufzuklären hinreichen.» (Zur Morphologie, Zweiten Bandes erstes Heft, 1823.)
«Im zweiten Teile der ,Morphologie' steht ein Bekenntnis: wie ich erst drei, dann sechs Wirbelknochen anzuschauen und anzuerkennen veranlasst worden. Hierin fand ich nun Hoffnung und Aussicht auf die schönste Beruhigung, bedachte möglichst die Ausbildung dieses Gedankens ins einzelne, konnte jedoch nichts Durchgreifendes bewirken. Zuletzt sprach ich hievon vertraulich unter Freunden, welche bedächtig zustimmten und auf ihre Weise die Betrachtung verfolgten. Im Jahre 1807 sprang diese Lehre tumultuarisch und unvollständig ins Publikum, da es ihr denn an vielem Widerstreit und einigem Beifall nicht fehlen konnte. Wieviel ihr aber die unreife Art des Vortrages geschadet, möge die Geschichte dereinst auseinandersetzen; am schlimmsten wirkte der falsche Einfluss auf ein würdiges Prachtwerk, welches Unheil sich in der Folgezeit leider immer mehr und mehr offenbaren wird.
 
Oken's Wirbelschädel Schädel eines Säugetieres in seitlicher Ansicht entsprechend den Anschauungen von Oken's Wirbeltheorie des Schädels. H Urwirbel, Sch Zungenwirbel, S Augenwirbel, davor der Nasenwirbel. k Körper, q Lochbogen, s Stachel. Aus L. Oken 1819, Tafel 18, Fig. 17
(Oken (Ockenfuss) war der erste Anatom der Universität Zürich)

Zur Priorität Goethes beim Zwischenkieferknochen:
Felix Vicq d'Azyr wurde ein Jahr vor Goethe, am 23. April 1748 als Sohn eines Arztes zu Valogne in der Normandie geboren. Schon in jungen Jahren machte er sich in Paris durch einen glänzenden anatomischen Kurs sowie durch anatomische, physiologische und medizinische Arbeiten einen Namen. Mit fünfundzwanzig Jahren war er bereits Mitglied der Académie des Sciences und 1788 wurde er als Nachfolger von Buffon in die Académie française aufgenommen. Am bekanntesten sind seine hirnanatomischen Arbeiten. Er starb schon am 20. Juni 1794, bedrückt durch die Schrecken der Revolution und den Verlust vieler Freunde, noch vor seinem Lehrer Louis Marie Daubenton, der ihn am Jardin des Plantes in die Osteologie eingeführt hatte.
Der Name von Felix Vicq d'Azyr muss hier genannt werden, weil ihm ganz unzweifelhaft die Priorität der Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen zukommt. Als Goethe im Frühjahr 1784 aufs tiefste bewegt voller Freude Herder seine Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen brieflich mitteilte, da wusste er sicher nicht, dass Vicq d'Azyr kurz zuvor die gleiche Entdeckung schon gemacht hatte (siehe Abb. 13). Wenn Goethe nun auch nicht, wie er meinte, als erster den Zwischenkiefer beim Menschen gefunden hat, so war er doch in seiner Arbeit völlig selbständig. Ihr Verdienst liegt darin, dass die unabhängige Wiederentdeckung nicht auf einem Zufallsfunde beruhte, sondern dass sie auf Grund von selbst erarbeiteten vergleichend-anatomischen Vorstellungen in planmässigem Nachsuchen erreicht wurde. Beispiele davon, dass ein Forscher in guten Treuen die Priorität einer Entdeckung beansprucht, während in Wirklichkeit ein oder sogar mehrere Vorgänger schon das gleiche gefunden hatten, sind, wie F. J. Cole in seiner Geschichte der vergleichenden Anatomie hervorhebt, nicht selten..
Schwer zu verstehen ist es, dass Goethe auch später, als er von Vicq d'Azyr's Arbeit Kenntnis erhalten und sie eingesehen hatte, ja sogar wahrscheinlich Vicq d'Azyr's Abbildung des menschlichen Zwischenkiefers für die Herstellung einer Abbildung in seiner eigenen Publikation über den Zwischenkiefer mit benützte, den Namen des französischen Forschers mit keiner Silbe erwähnte. Auch auf die ausgedehnten vergleichend-anatomischen Betrachtungen Vicq d'Azyr's ist er nicht eingegangen.
Der in den «Naturwissenschaften» 1949 (36. Jahrgang, Heft 7) erschienene Aufsatz von Max Pfannenstiel, Freiburg i. Br., trägt den Titel: Die Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefers durch Goethe und Oken. Pfannenstiel weiss es sehr wahrscheinlich zu machen, dass Oken, trotzdem ja zum mindesten Loder über Goethe's Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen etwas publiziert hatte, glaubte, als erster diese Entdeckung gemacht zu haben und dass er auch in seiner akademischen Antrittsrede vom Jahre 1807 offenbar noch dieser Meinung war. Von einem Prioritätsstreit zwischen Goethe und Oken kann in dieser Frage schon deswegen nicht die Rede sein, weil heute unzweifelhaft feststeht, dass Vicq d'Azyr die gleiche Entdeckung schon vor den beiden genannten Forschern gemacht und publiziert hat.

XI. Rückblick und Ausblick
Aus Goethe's naturwissenschaftlichem Arbeiten, das sich über weite Gebiete erstreckt, sind hier nur seine morphologischen Leistungen hervorgehoben worden und auch diese nur, soweit sie sich auf die Osteologie des Schädels beziehen. Dass er nicht der erste war, der den Zwischenkiefer beim Menschen nachwies, beeinträchtigt sein Verdienst in keiner Weise, denn er machte diese Entdeckung durchaus selbständig und gegen eine in der damaligen Wissenschaft herrschende Zeitströmung. Seine Wirbeltheorie des Schädels hat, wenn ihr auch keine dauernde Geltung beschieden war, doch auf Jahrzehnte die schädelmorphologischen Vorstellungen beherrscht und sich als heuristisch wertvoll erwiesen.
Von tiefer Nachwirkung und bleibender Bedeutung sind seine Bemühungen um die Erfassung des Typischen. Sie wurden in neuerer Zeit wieder zu Ehren gezogen, als sich die Kritik an dem sogenannten biogenetischen Grundgesetz und an der während Jahrzehnten üblichen Art des Betriebes stammesgeschichtlicher Forschung zu regen begann. Man besann sich darauf, dass die Untersuchung der fossilen Überreste im Grunde auf einer idealistischen Morphologie beruht. Es muss aber beigefügt werden, dass die Vergleichung nicht mehr rein zeitlos ist. Neu hinzugekommen ist die Kenntnis der zeitlichen Aufeinanderfolge der fossilen Formen, die noch während der letzten Lebensjahrzehnte Goethe's erst im Werden war. Goethe's Einstellung zu den Anfängen der Deszendenzlehre in der Form, wie sie damals vorlagen, ist umstritten. Die meisten nehmen wohl mit Recht an, dass ihm der Gedanke an einen realen Transformismus fernlag.
Im Zusammenhang mit Goethe's Ausspruch «Die vergleichende Anatomie eröffnet uns die Tiefen der Natur mehr als jede andere Bemühung und Betrachtung» schrieb der um die Goethe-Forschung sehr verdiente J. Schuster (66): «Das Jahr 1795 ist als Geburtsjahr der vergleichend-idealistischen Anatomie ewig denkwürdig.» Diese Auffassung scheint mir bei aller Würdigung von Goethe's Verdiensten den geschichtlichen Tatsachen nicht gerecht zu werden.
Die vergleichende Anatomie beginnt mit Aristoteles und sie war schon damals ihrer Natur nach eine idealistische Morphologie. Auch mit Belon's Vergleich des Vogelskelettes mit dem menschlichen Skelett aus dem Jahre 1555 und mit den wahren Glanzleistungen vergleichender Forschung aus dem 17. Jahrhundert, z.B. denjenigen eines Nicolaus Steno, verhält es sich nicht anders. Billigerweise darf aber von einem Goethe, der andere, grössere Aufgaben zu erfüllen hatte und der den morphologischen Studien nur einen kleinen Teil seiner Arbeitskraft widmen konnte, keine vollständige Übersicht über die schon damals weitverzweigte Fachliteratur erwartet werden.
(in anderen Worten: er war hier, wie auch bei der Farbentheorie, ein Dilettant. Goethe war aber, als Direktor der Sammlungen, die künstlerische Freiheit bekannt, mit welcher Zeichner fehlende Knochen zufügten.)
 

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