NGZ-Neujahrsblatt 1953, 155.Stück, 35Seiten, 36Abb.,  1Tafel
Vom Wachstum der Kristalle
Paul Niggli
Mineralogisch-petrographisches Institut der Eidg. Technischen Hochschule und Universität Zürich
Quartz harvest, Uri Switzerland
Titelblatt: «Ausbeutung der Krystallhöhle am Tiefengletscher, Canton Uri, im August 1868» dar. (Nach einem zeitgenössischen Bild aus dem Naturhistorischen Museum in Bern.)
German only
Einleitung:
Bei jeder wissenschaftlichen Erforschung eines Seinsbestandes wird vorausgesetzt, dass gegenwärtiger Zustand und Beobachtungsinventar nach gewissen Prinzipien beschreibbar sind und im Flusse des Geschehens Folgen von Vergangenem und Ausgangspunkte für Zukünftiges darstellen. Es gilt dies' für Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, etwa wenn (in der Sprachwissenschaft) der Entstehungsprozess und die Wandlungsfähigkeit der Sprache von heute erforscht oder (in der Rechtskunde) das geltende Recht dargestellt, geschichtlich erläutert und neuen Bedürfnissen angepasst wird. Ohne strenge Determination als bewiesen anzusehen, glaubt der Forscher an die Existenz von Zusammenhängen zwischen Sein, Werden und Vergehen.
Den Beschreibungen über einen den wissenschaftlichen Methoden zugänglichen Gegenstand fehlen nie die Elemente der Gestaltung und Formung, gestatten doch erst morphologische Prinzipien eine übersichtliche Gliederung. Zum Unterscheidungs- gesellt sich das Generalisierungsvermögen. Unzweifelhaft kommt hinsichtlich des Zusammenwirkens verschiedener natur-wissenschaftlicher Forschungsmethoden der Biologie besonders grosse Anschaulichkeit zu.
Mit blossem Auge oder mit optischen Hilfsmitteln, die lediglich das Auflösungsvermögen erhöhen, wird eine naturgegebene Gliederung bestimmter Gestalt und Form sichtbar. Alltagsbegriffe zeigen, dass sich, trotz der Variabilität, Zusammenfassungen von Individuen zu höheren Kategorien aufdrängen, die, nach kritisch-wissenschaftlichen Überlegungen, mithelfen, sehr brauchbare Abgrenzungen zu schaffen. Es entsteht eine für weitere Forschungen grundlegende, jedoch mit fortschreitender Erkenntnis stets revisionsbedürftige Systematik und Verwandtschaftslehre, wobei beobachtet wird, dass eine bestimmte Formung und Gestaltung sich gesetzmässig entwickeln und schliesslich wieder der Auflösung anheimfallen kann.
Vergleichende Untersuchungen über die Wachstumsvorgänge, über die Morphologie der verschiedenen Wachstumsstadien und über die auf physikalische und chemische Elementarprozesse rückführbare Dynamik ermöglichen nicht nur ein tieferes Verständnis der im Organismus sich abspielenden Prozesse, sondern gleichzeitig eine sowohl Werden wie Sein umfassende inhaltsreichere Systematik und Verwandtschaftslehre mit ihren Analogien, Homologien, Konvergenzen usw.
Nun folgt eine Kürzest-Einführung in die Kristallographie: Koordinationszahlen, Freiheitsgrade (Normalschwingungen) hauptsächlich am Beispiel des Calcits (aber auch Quarz, Kochsalz und Schnee sind erwähnt.). Niggli führt die Flächenbezeichnungen und das Wulffsche-Netz ein, inkl. den Erläuterungen am Atomgitter. Die Thermodynamik des Wachstums wird angedeutet. weiterer Inhalt: -"Lokalrassen" von Calzit. Einschlüsse (Rutil, Amiant), Aufwachskristalle (Chabasit) und Heilungen, resp weiteres Wachstum (Phantom-, Szepter- und Skelettquarz).
Heute sind bereits sehr viele Faktoren der Wachstumsbeeinflussung bekannt und wenigstens teilweise experimentell durchstudiert worden. Dem Praktiker und Mineralogen stehen Monographien über die Beeinflussung des Kristallwachstums, den Einfluss von Kristallstörungen auf das Wachstum und über die Möglichkeiten der Umformungen und Vergütungen von kristallinen Aggregaten zur Verfügung. Aber es ist ganz selbstverständlich, dass die Forschung immer wieder zur Beantwortung neuer Fragen aufruft und in ihrer Intensität und Extensität grenzenlos erscheint. Sie hat zur Präzisierung der Begriffe und Problemstellungen eine ihr eigene Fachsprache schaffen müssen, die zu benützen diesen allgemeinen Erörterungen nicht dienlich gewesen wäre. Deren Ziel war es, die Aufmerksamkeit auf die so oft beobachteten Vorgänge des Kristallwachstums zu lenken.
Das Staunen über das Wunder der Kristallgestaltung und die Neugierde, zu erfahren, wie die Eigenschaften kristalliner Materie von ihrer Bildungsweise abhängen, haben eine Wissenschaft entstehen lassen, die in irgendeiner Abwandlung in sich fast die ganze Fülle der Fragestellungen enthält, die den um Erkenntnis ringenden Geist beim Anpacken irgendeines Problems beschäftigen. So vermag in ihrer Einordnung in das Ganze auch diese Fachdisziplin anderen Wissenszweigen Anregungen zu vermitteln und Analogien in Ergebnissen und Methodik aufzuzeigen. Sie lässt in ihrem kleinen Bereich erahnen, dass der Gedanke der Universitas lebendig ist. In e i n e r von vielen Facetten spiegelt sich auch in ihr die Struktur des menschlichen Geistes in seinen Bemühungen und seinen Fähigkeiten, das Sein in Bildern zu gestalten, die der inneren Wahrhaftigkeit verpflichtet sind.

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