NGZ-Neujahrsblatt 1956,  34 Seiten, mit 15 Abbildungen im Text und einer ganzseitigen Photographie von James Dewar, Nr. 158
Flüssiger Wasserstoff
Klaus Clusius, Physikalisch-chemisches Institut der Universität Zürich
Klaus Clusius, physikalischer Chemiker, * Breslau 19.3. 1903, † Zürich 23. 5. 1963, entwickelte 1938 das nach ihm benannte Trennrohr zur Isotopentrennung. (u.a. D, H und  UF6)
Wasserstoffverflüssiger

Inhaltsverzeichnis
Faraday's Arbeiten über Gasverflüssigung
Das Wirken von van der Waals
James Dewar
Besuch einer Anlage für flüssigen Wasserstoff
Unmittelbare Folgen der Verflüssigung des Wasserstoffs
     Flüssiges Helium
     Ortho- und Parawasserstoff
     Schwerer Wasserstoff
     Anwendungen von flüssigem Wasserstoff
Literaturhinweis

 

Die Zeichnung auf dem Umschlag gibt eine verkleinerte Planskizze des Wasserstoffverflüssigers im Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Zürich wieder.
German only

Flüssiger Wasserstoff
Die Verflüssigung des leichtesten gasförmigen Elements, des Wasserstoffs, durch James Dewar am 10. Mai 1898 bedeutet das Ende einer alten und den Anfang einer neuen Entwicklung. Ein Ende, da an diesem Tag die hundert Jahre währenden Bemühungen um die Verflüssigung der Gase zu einem gewissen Abschluss kamen. Einen Anfang, weil mit der Verflüssigung des Wasserstoffs die Forschung in ein Gebiet vorstiess, in dem sie bald neuartigen, ungeahnten Eigenschaften der Materie begegnen sollte. Bei den mit flüssigem Wasserstoff erreichbaren Temperaturen beginnt der Schleier zu fallen, den bei höherer Temperatur die Wärmebewegung über alle Erscheinungen breitet. Hier erschliesst sich die Welt der Quanten so eindringlich, dass viele ihrer Eigenarten nicht mehr lange verborgen bleiben konnten.
Worin lag die eigentliche Schwierigkeit des Problems und wer war der Mann, der es löste? War JamesDewar ein Ingenieur mit weiten Interessen, der die bei derartigen Arbeiten auftauchenden Fragen des Maschinenbaus beherrschte? Oder war er ein abstrakter Denker, geschickt genug, um seine theoretischen Folgerungen in die Praxis umzusetzen? War dieser Schotte ein Thermodynamiker aus der Schule seines Landsmanns William Thomson, des späteren Lord Kelvin, und somit bestens vorbereitet zur Lösung einer Aufgabe der Wärmelehre? James Dewar war nichts oder nur wenig von alledem. Doch werden wir uns dieser eigenartigen Persönlichkeit erst zuwenden, sobald wir uns mit der Aufgabe vertraut gemacht haben, die er nach zwanzigjähriger Arbeit schliesslich bewältigen konnte.

Faraday's Arbeiten über Gasverflüssigung
Der Gedanke, dass jede Materie in allen drei Aggregatzuständen - fest, flüssig, gasförmig - vorkommen kann, hatte im Laufe des 18. Jahrhunderts in den führenden Köpfen der Zeit feste Gestalt gewonnen. Sehr klar äusserte sich dazu Lavoisier:
«Wenn die Erde plötzlich in eine sehr kalte Region versetzt würde, müsste zweifellos die Luft oder wenigstens der eine oder andere ihrer luftförmigen Bestandteile, aus denen sich die Atmosphäre zusammensetzt, die Elastizität verlieren. Denn es fehlte dann eine genügend hohe Temperatur, um sie in dem jetzigen Zustand zu erhalten. Sie würde flüssig werden und neue Flüssigkeiten würden auftreten, von deren Eigenschaften wir uns gegenwärtig auch nicht die entfernteste Vorstellung machen können.» ... Dann folgen Faradays Versuche mit dem Winkelrohr und seiner Warnung :«die Vorsicht gläserne Masken und Brillen zu tragen, ist besonders beim Arbeiten mit Kohlendioxid angezeigt.» ...In diesen Glasrohren stiegen die Drucke bis zu 80 Atmosphären. ...

1844 waren 6 Gase "unbesiegt": Stickoxid, Kohlenmonoxid, Methan und Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff. Helium wurde erst 1868 entdeckt, Ar 1894, Ne,Kr,Xe 1898 und das letzte der Edelgase Rn folgte 1900.
Ein Verfahren bestand darin, mit eine Kältekaskade zu arbeiten: Man kühlt mit z.B. flüssigem Kohlendioxid ein Gas unter die kritische Temperatur ab und verflüssigt es durch Kompression. Mit dieser Flüssigkeit wird das nächste Gas gekühlt, etc. Der Schönheitsfehler dabei ist, dass zwischen Stickstoff und Neon eine zu grosse Lücke besteht. Das andere Verfahren benutzt die adiabatische Expansion. Die Schwierigkeit lag darin, dass zum Erreichen des Umkehrpunktes der Wasserstoff zuerst mit flüssiger Luft vorgekühlt werden muss, erst dann geht es weiter mit Kompression und Rückflusskühlung, Expansion und durch den Kühler zurück zum Kompressor, wobei dieser Apparateteil sehr kompakt gebaut ist.

James Dewar *20.September 1842, † 27.März 1923.(lernte schreinern, um sich seine eigene Geige bauen zu können. Er war ein virtuoser Glasbläser und geschickter Mechaniker)
Dewar hat Einzelheiten seiner Apparaturen niemals mitgeteilt, ja ihre Veröffentlichung rundweg mit dem Bemerken abgelehnt, seine Anlage befände sich noch im Zustand der Erprobung. Sie steht heute im South Kensington Museum in London. Wir können uns mit einiger Mühe rekonstruieren, dass Dewar mit abgepumpter flüssiger Luft von -205°C, einem Druck von 180 Atmosphären und einer Strömung von 15 bis 25 Kubikmeter Wasserstoff in der Stunde arbeitete. Mehr wissen wir nicht, obwohl Dewar sehr bald literweise über flüssigen Wasserstoff verfügte. Um so freigebiger ist Dewar bei der Schilderung der Eigenschaften der neuentdeckten wunderbaren Flüssigkeit. ......

Anwendungen von flüssigem Wasserstoff
Wir sind damit bei den Anwendungen angelangt, die noch in Kürze betrachtet werden sollen. Gerade für den physikalischen Chemiker ist flüssiger Wasserstoff ein äusserst wertvolles und vielseitiges Hilfsmittel. In der Schweiz steht er allerdings bisher nur im Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Zürich zur Verfügung, wo er dauernd benutzt wird. Einige dieser Anwendungen seien hier besprochen.
Einmal gibt es eine Fülle von Tieftemperaturproblemen, die mit flüssigem Wasserstoff bearbeitet werden können; z.B. Aufgaben der Phasenlehre, Untersuchungen der optischen Eigenschaften fester Gase, des Verhaltens von Zerreissfestigkeit, Wärmeleitfähigkeit und anderen Materialeigenschaften metallischer und plastischer Werkstoffe bei tiefen Temperaturen und dergleichen mehr.
Die Reindarstellung der Wasserstoffisotope wird durch flüssigen Wasserstoff ausserordentlich erleichtert und eröffnet ein weites Feld auf rein chemischem Gebiet. Extrem reiner und trockener H2, reiner Para-H2 und Ortho-D2 werden durch flüssigen Wasserstoff überhaupt erst zugänglich. Zieht man noch die Rektifikation der Wasserstoffisotope heran, so werden reinster schwerer Wasserstoff und das für verschiedene reaktionskinetische Fragen hochinteressante, aber noch wenig benutzte Deuteriumhydrid, HD, ebenfalls verfügbar. In Zukunft dürften dazu noch die radioaktiven Isotope T2 sowie TD und TH kommen. Auch lässt sich durch Rektifikation völlig deuteriumfreier leichter Wasserstoff gewinnen, wie er in der Kernphysik bisweilen erwünscht ist.
Unschätzbar ist die Möglichkeit, in den ausgedehntesten Apparaturen (wie z. B. in der Zürcher Trennrohranlage für Isotope mit 250 m Rohrlänge) alle Gase bis auf die letzte Spur mit flüssigem Wasserstoff quantitativ zu kondensieren und nach Belieben hin- und herzuschieben. Zersetzliche Verbindungen, die man nicht durch Quecksilberpumpen oder an Aktivkohle sammeln darf, können so aufkonzentriert werden. Gase, die wegen eines kleinen Wasserstoff- oder Luftgehalts, wie er sich bei Isotopentrennungen im Laufe der Zeit fast immer einstellt, von flüssiger Luft nicht mehr quantitativ ausgefroren werden, lassen sich mit flüssigem Wasserstoff verlustfrei gewinnen.
Umgekehrt kann man bequem die analytische Aufgabe lösen, aus einem Gasgemisch winzige Wasserstoffmengen herauszuholen, zu konzentrieren und auf die isotope Zusammensetzung hin zu untersuchen. Trennfaktoren von 106 und darüber lassen sich in wenigen Minuten erhalten.
...
Zudem lässt sich mit Vorkühlung durch flüssigen Wasserstoff Helium sparen.

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