NGZ-Neujahrsblatt 1957,  42 S., mit 25 Abb., Nr. 159
Atomenergie
Paul Scherrer
SwimmingPool reactor at Geneva conference Atoms for Peace
Umschlagbild:
Forschungsreaktor, Typ "Swimmingpool", ausgestellt 1955 an der Genfer Konferenz "Atoms for Peace" (Tscherenkow-Strahlung), 1957 in Würenlingen auf 100fache Leistung modifiziert aufgebaut.
German only

 
 
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
1. Arbeit und Energie
2. Die Energiequellen der Erde  
3. Die Brennstoffreserven und ihre Erschöpfung
4, Der Atomkern als Energiequelle    
5. Der Atombau
6. Die künstliche Kernumwandlung    
7. Die Uranspaltung
8. Reaktorphysik
  a) Die Kettenreaktion
  b) Der Wirkungsquerschnitt
  c) Neutronenstreuung
  d) Der Uranreaktor
9. Reaktortechnik
 a) Leistungsreaktoren
 b) Breeder
 c) Beispiele von Reaktoren, Der Schweizer Reaktor
 

1. Arbeit und Energie
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging eine romantisch anmutende Epoche der Naturwissenschaften zu Ende. Die Grundgesetze der Mechanik waren gefunden und streng formuliert worden. NEWTON konnte die Bewegung des Mondes und der Planeten exakt berechnen. Erste Versuche zur Beherrschung der komplizierten Bewegungen von Flüssigkeiten durch EULER und BERNOULLI verliefen erfolgreich. In der Differential- und Integralrechnung war durch NEWTON und LEIBNIZ ein mathematisches Werkzeug von unschätzbarem Wert für die Behandlung physikalischer Probleme geschaffen worden. Die Theorie des Lichtes hatte entscheidende Fortschritte gemacht. Fernrohre und Mikroskope waren schon hochentwickelte Instrumente, nur das Verständnis der elektromagnetischen Vorgänge steckte noch in den Anfängen.
Nun erklärte 1775 die französische Akademie mit Bestimmtheit, daß die Konstruktion eines Perpetuum mobile unmöglich sei und dass sie keine diesbezüglichen Erfindungen mehr zur Prüfung entgegennehmen könne. Der Traum so vieler Erfinder, eine Maschine zu bauen, die dauernd Energie aus nichts erzeugen würde, war damit zu Ende. Freilich flackern die Bestrebungen für den Bau einer solchen Maschine in der Phantasie immer wieder auf, wäre doch kaum eine Erfindung von grösserer Tragweite möglich.
Seither hat die Wissenschaft neue Wege beschritten: Weniger anspruchsvoll in der Zielsetzung, hat sie Kräfte zu entfesseln und auch zu bändigen gewußt, welche die Muskelkraft aller Lebewesen und zugleich wohl auch die kühnen Vorstellungen aller Perpetuum-mobile-Erfinder bei weitem übertreffen. Der neueste Schritt auf diesem Wege ist die Nutzbarmachung der Atomenergie.
Die schwierige Frage nach dem Wesen der Energie, nach den Erhaltungssätzen für Energie und Masse hat die Physiker schon immer beschäftigt.
....

aus dem Ausblick:
Während die Forschung auf dem Gebiet der Kernphysik an den schweizerischen Hochschulen seit vielen Jahren äusserst intensiv gepflegt wurde und die Schweiz hier einen sehr hohen Standard aufweist, ist die Reaktortechnik in unserem Lande noch sehr wenig entwickelt. Trotz grösster Anstrengung unserer Behörden und der Schweizerischen Forschungskommission war es nämlich sehr lange Zeit nicht möglich, die für den Bau eines Reaktors nötige Menge Uran zu bekommen. Es gibt ja leider keine abbauwürdigen Uranvorkommen in unserem Lande, und wir waren in dieser Beziehung völlig auf das Ausland angewiesen.
Erst jetzt, da wir über das nötige Uran verfügen, sind wir in der Lage, Reaktoren zu bauen und uns in die Technologie dieser Maschine einzuarbeiten. Sehr wichtig dabei ist auch die Zusammenarbeit mit andern Ländern. So ist beabsichtigt, mit den USA, England, Kanada und Frankreich bilaterale Verträge abzuschliessen, welche uns in den Besitz von weiterem spaltbarem Material setzen und die einen technischen Erfahrungsaustausch zwischen den Industrien der Vertragspartner ermöglichen sollen. Ein solcher Vertrag mit den USA, der den Charakter eines Lizenzvertrages hat und welcher der Schweiz ausserordentliche Vorteile bringen wird, ist vom Parlament gerade ratifiziert worden.
Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, dass die Atomenergie in der Wirtschaft der Zukunft eine bedeutende Rolle spielen wird. Es ist als glücklicher Umstand zu betrachten, dass gerade jetzt, wo das Ende der Kohle- und Ölreserven abzusehen ist, die Atomenergie entdeckt wurde. Bei den heute noch hohen Kapitalkosten eines Atomkraftwerkes (der Brennstoffpreis spielt keine wesentliche Rolle), liegt der Preis der aus Uran erzeugten elektrischen Energie noch über dem üblichen Wert. Das Calder-Hall-Atomkraftwerk gibt allerdings als Preis für die Kilowattstunde schon heute den erstaunlich tiefen Betrag von 0,6 d, entsprechend etwa 3 Rappen, an.
Die schweizerischen Wasserkräfte werden in spätestens 15 bis 20 Jahren völlig ausgebaut sein und dann etwa doppelt so viel Energie liefern wie heute. Weil der Energiebedarf dauernd steigt, müssen wir uns dann nach neuen Energiequellen umsehen. Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Energiebedarf durch das Ausland gedeckt werden kann, weil sich die anderen europäischen Staaten, Norwegen (seiner reichen Wasserkräfte wegen vielleicht ausgenommen), in ähnlicher Lage befinden werden.
Die Schweiz ist auf die Atomenergie unausweichlich angewiesen und es ist daher dringend nötig, dass sie die Entwicklung auf diesem so wichtigen Zukunftsgebiet mit allen Kräften fördert.

Home  Liste der Neujahrsblätter