![]() Umschlagbild: Denkstein aus der Zeit der 18. Dynastie in der Glyptothek in Kopenhagen. Ein an den Folgen spinaler Kinderlähmung Leidender opfert mit seiner Frau der als Heilgöttin verehrten Istar. German only |
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1. Geschichte II. Die Erreger der Poliomyelitis III. Viruserkrankungen, die die Poliomyelitis nachahmen können IV. Epidemiologie der Poliomyelitis Die Poliomyelitis, eine Zivilisationskrankheit Die Hypothesen zur Erklärung der Pathomorphose der Poliomyelitis Offene Fragen über die Epidemiologie der Poliomyelitis Bedeutung endogener und exogener Faktoren für den Ausbruch der Poliomyelitis Die Pathomorphose neurotroper Erkrankungen V. Klinik der Poliomyelitis VI. Diagnose der Poliomyelitis VII. Therapie der Poliomyelitis Die Behandlung der schweren Fälle Behandlung der gewöhnlichen Lähmungen ohne Störung der Atem- und Schluckfunktion im akuten Stadium Therapie des chronischen Stadiums VIII. Die sozialen Probleme der Poliomyelitis IX. Prophylaxe der Poliomyelitis Passive Immunisierung Aktive Immunisierung X. Die Behandlung der Poliomyelitispatienten in der Aussenstation des Kinderspitals in Affoltern am Albis (von Johanna Friderich) XI. Psychische Störungen bei Kindern mit Poliomyelitis (von Alphons Weber) A. Die psychoreaktiven Störungen 1. Die Bedeutung der Bewegungseinschränkung 2. Die Bedeutung der Minderwertigkeitsgefühle B. Die psychoorganischen Störungen XII. Die berufliche Eingliederung der Poliogeschädigten (von Alphons Weber) . A. Nach welchen prinzipiellen Gesichtspunkten hat die Eingliederung zu erfolgen? B. Was für Institutionen stehen für die Eingliederung zur Verfügung? . . XIII. Versicherung gegen die Kinderlähmung in der Schweiz Kinderlähmungsversicherung des Schweizerischen Verbandes für die erweiterte Krankenversicherung (von EDUARD LE GRAND) Schlusswort |
Aktive Immunisierung
Heute hat das Problem der aktiven Immunisierung dasjenige
der passiven ganz in den Hintergrund gedrängt. Es werden zurzeit Versuche
mit zweierlei Vakzinen gemacht: Salk benützt mit Formalin abgetötete
Vakzine, welche aus Gewebskulturen von Affennieren stammen und welche die
drei Poliomyelitistypen enthalten. Sabin, Koprowski und andere versuchen,
durch die orale Einverleibung von lebenden, aber abgeschwächten Poliostämmen
die Immunisierung zu erzielen. Es ist zu hoffen, dass auf diesem Wege ein
noch wirksamerer Impfstoff erhalten wird; bis heute aber ist das Versuchsstadium
noch nicht überschritten und lebende Vakzinen sind noch gar nicht
erhältlich.
SALK konnte zeigen, dass die abgetötete Vakzine
den Neutralisationstest im Serum der geimpften Kinder ganz erheblich steigert
(Abb. 21) und dass die Booster-Injektion, 6 Monate nach der Impfung gegeben,
eine weitere erhebliche Steigerung des Neutralisationstestes bewirkt (Abb.
22). Mit der Salk-Vakzine kann man bereits nach 9 Tagen einen ziemlichen
Anstieg des Neutralisationstestes erzielen. Leider weiss man heute noch
nicht, wie lange dieser Titeranstieg anhält und ob er nicht nach einigen
Jahren wieder verschwindet. SALK berichtete in Genf (Juli 1957), dass jedenfalls
noch 3 Jahre nach der Impfung der Antikörpertiter ziemlich hoch ist,
und dass er wahrscheinlich genügen wird, um das Zentralnervensystem
gegen das Eindringen des Poliovirus zu schützen. Die im April 1955
allzu theatralisch geweckten Hoffnungen, durch die Salk-Impfung die Poliomyelitis
besiegt zu haben, erhielten einen starken Dämpfer durch die Cutter-Katastrophe.
Mehrere hundert Kinder wurden durch die Impfung gelähmt, weil der
Impfstoff noch lebende Viren enthielt. In Genf 1957 erfuhren wir, dass
die Katastrophe auf eine mangelhafte Filtration der Gewebskulturen zurückzuführen
sei. Heute wird die Herstellung der SalkVakzine so scharf kontrolliert,
dass eine Cutter-Katastrophe sich nicht mehr wiederholen kann. Seit der
verschärften Kontrolle sind weit über 100 Millionen Impfungen
vorgenommen worden, ohne dass je eine Lähmung durch sie bedingt worden
wäre.
Die Mitteilungen in Genf (Juli 1957) über die Erfolge
der Salkimpfung sind dermassen optimistisch, dass an ihrer Wirkung nicht
mehr gezweifelt werden kann. In den Vereinigten Staaten ist bereits die
Mehrzahl der Jugendlichen geimpft, und für das Jahr 1956 konnte statistisch
ermittelt werden, dass nach zwei Impfungen 75 % und nach der dritten Impfung
eine noch höhere Prozentzahl von Individuen von der Lähmung verschont
geblieben sind. Die Erfahrungen in Chicago, auf Hawaii und an andern Orten
haben gezeigt, dass man auch auf der Höhe einer Epidemie impfen kann,
ohne dass dadurch die Poliomyelitis begünstigt wird. Umgekehrt gewann
man den Eindruck, dass wahrscheinlich dank der Impfung bereits nach wenigen
Monaten die Epidemie erlosch. Leider tritt ein genügender Schutz erst
Wochen nach der Impfung ein, und wenn ein Kind in dieser Wartezeit angesteckt
wird, so wird es natürlich noch erkranken. Ausser in den Vereinigten
Staaten und in Kanada sind in Australien, Dänemark und der Tschechoslowakei
die Mehrzahl der Jugendlichen geimpft worden. Auch in diesen Ländern
ist im Jahre 1956 und bis zum Frühjahr 1957 die Zahl der poliomyelitischen
Lähmungen ganz gewaltig zurückgegangen. In Australien ist zum
Beispiel nur der fünfte Teil der Lähmungen aufgetreten, die auf
Grund der Statistiken der vorhergehenden Jahre erwartet wurden.
Immerhin sind die erfreulichen, günstigen Berichte
noch nicht restlos beweisend dafür, dass die Impfung wirksam ist,
da die Poliomyelitishäufigkeit ausserordentlich grossen Schwankungen
unterworfen ist, für die wir gar keine Erklärung haben. Es ist
allerdings kaum dem Zufall zuzuschreiben, dass gerade diejenigen sonst
stark heimgesuchten Länder, in denen ausgiebig geimpft worden ist,
in den letzten 1½ Jahren von einer Polioepidemie verschont geblieben
sind. Die bis zum 1. Oktober 1957 vorliegenden Ergebnisse der Impfung in
der Schweiz sind ebenfalls sehr erfreulich. Die Impfungen begannen in grösserem
Maßstabe im November 1956, und nach der Menge des abgegebenen Schutzstoffes
kann man schätzen, dass an die 800 000 Individuen geimpft wurden.
Und nun die vorläufigen Ergebnisse: Abgeklärt wurden bis zum
Oktober 1957 177 Polioerkrankungen:
Keine Lähmungen |
Leichte Lähmungen |
Mittelschwere Lähmungen | Schwere Lähmungen |
Gestorben | |
Nicht geimpft 148 | 55 | 39 | 14 | 32 | 8 |
Einmal geimpft 3 | 2 | 1 | |||
Zweimal geimpft 24 | 19 | 1 | 1 | 2 | 1 |
Dreimal geimpft 2 | 2 |
Schlusswort
Die Geschichte der Kinderlähmung im 20. Jahrhundert
gehört zu den faszinierendsten Kapiteln der Medizingeschichte überhaupt.
Noch vor 70 Jahren ein dem praktischen Arzt kaum bekanntes Krankheitsbild,
entwickelte sich die Poliomyelitis parallel mit der Hebung des Lebensstandards
in den hochzivilisierten Ländern zur wichtigsten und am meisten gefürchteten
Infektionskrankheit der letzten zwei Dezennien. Der Grösse der Gefahr
entsprechend war die Reaktion der Wissenschaft und der für die Gesundheit
verantwortlichen Behörden. In rascher Folge wurden die Erreger der
schrecklichen Krankheit isoliert, dargestellt und gezüchtet, was erst
die Herstellung einer wirksamen Vakzine ermöglichte. Wir dürfen
heute hoffen, dass durch die Impfung in einigen Jahren die Kinderlähmung
in eine harmlose Krankheit umgewandelt werden wird. Zentren für die
Behandlung der akuten schweren Fälle mit teuren Respiratoren und Heime
für die Wiederherstellung der Schwergelähmten wurden geschaffen.
Bei der Versicherung gegen die schweren Schäden der Krankheit, auf
freiwilliger Basis und durch die öffentlichen Krankenkassen, sprechen
die Fachleute von einem beispiellosen Triumphzug.
Das Hauptverdienst in diesem gigantischen Kampf, der
hoffentlich bald mit einem Siege des Menschen über das winzige Virus
enden wird, gebührt zweifellos der National Foundation for Poliomyelitis
in den Vereinigten Staaten. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist
ein prophylaktischer Versuch mit einem Impfstoff auf so grosser Basis mit
solchen Mitteln und solch wissenschaftlicher Genauigkeit durchgeführt
worden. Um die Wirksamkeit des Impfstoffes zu prüfen, wurden 650 000
Kinder zum Teil mit der Vakzine, zum Teil mit einer Kontrollflüssigkeit
(Placebo) gespritzt und damit der Beweis der prophylaktischen Wirkung erbracht.
Aber auch den Ärzten, Krankenschwestern, Physiotherapisten und nicht
zuletzt den Sanitätsbehörden unseres kleinen Landes gebührt
unser Dank für all das, was bei uns erzielt wurde. Der Kampf gegen
die Poliomyelitis, der bereits so viel erreicht hat und noch mehr verspricht,
ist ein schönes Beispiel dafür, was die Zusammenarbeit von Grundlagenforschung,
von Individual- und Sozialmedizin, von Behörden, Versicherungsgesellschaften
und Erziehern zustande bringen kann.