NGZ-Neujahrsblatt 1958,  65 S., mit 22 Abb., Nr. 160
DIE SPINALE KINDERLÄHMUNG
(Poliomyelitis)
Von Guido Fanconi
Mit Beiträgen von Johanna Friderich, Eduard Le Grand und Alphons Weber
 
Poliomyelitis in Ancient Egypt
Umschlagbild:
Denkstein aus der Zeit der 18. Dynastie in der Glyptothek in Kopenhagen. Ein an den Folgen spinaler Kinderlähmung Leidender opfert mit seiner Frau der als Heilgöttin verehrten Istar.
German only
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1.   Geschichte
II.   Die Erreger der Poliomyelitis
III.   Viruserkrankungen, die die Poliomyelitis nachahmen können
IV.   Epidemiologie der Poliomyelitis
         Die Poliomyelitis, eine Zivilisationskrankheit
         Die Hypothesen zur Erklärung der Pathomorphose der Poliomyelitis 
         Offene Fragen über die Epidemiologie der Poliomyelitis 
         Bedeutung endogener und exogener Faktoren für den Ausbruch der Poliomyelitis      
         Die Pathomorphose neurotroper Erkrankungen      
V.   Klinik der Poliomyelitis       
VI.   Diagnose der Poliomyelitis     
VII.   Therapie der Poliomyelitis   
         Die Behandlung der schweren Fälle   
         Behandlung der gewöhnlichen Lähmungen ohne Störung der Atem- und 
           Schluckfunktion im akuten Stadium
         Therapie des chronischen Stadiums     
VIII.   Die sozialen Probleme der Poliomyelitis 
IX. Prophylaxe der Poliomyelitis
         Passive Immunisierung Aktive Immunisierung
X.   Die Behandlung der Poliomyelitispatienten in der Aussenstation des Kinderspitals
         in Affoltern am Albis (von Johanna Friderich)   
XI.   Psychische Störungen bei Kindern mit Poliomyelitis (von Alphons Weber)
       A.   Die psychoreaktiven Störungen      
         1. Die Bedeutung der Bewegungseinschränkung
         2. Die Bedeutung der Minderwertigkeitsgefühle B. Die psychoorganischen Störungen
XII. Die berufliche Eingliederung der Poliogeschädigten (von Alphons Weber) .
A.   Nach welchen prinzipiellen Gesichtspunkten hat die Eingliederung zu erfolgen?
B.   Was für Institutionen stehen für die Eingliederung zur Verfügung?  .  .
XIII.   Versicherung gegen die Kinderlähmung in der Schweiz 
          Kinderlähmungsversicherung des Schweizerischen Verbandes für die erweiterte
            Krankenversicherung (von EDUARD LE GRAND) 
Schlusswort
 
Vorwort
Das vorliegende Neujahrsblatt ist nicht aus einem Guss entstanden; es fehlte mir die Zeit, um die grosse Literatur der letzten Jahre kritisch zu sichten und mit meiner und meiner Mitarbeiter Erfahrung zu einer Monographie zu kondensieren. Es sind hier vielmehr aus einer Reihe eigener, kleinerer und grösserer einschlägiger Arbeiten der letzten Jahre Abschnitte wiedergegeben und aneinandergereiht worden, wobei ich Wiederholungen möglichst auszumerzen versucht habe. Neueste Forschungsergebnisse wurden an verschiedenen Stellen hinzugefügt. Es konnte nicht vermieden werden, dass einzelne Abschnitte zu kurz, andere zu lang geraten sind, dass einige sich mehr an den Spezialisten, andere mehr an den gebildeten Laien wenden. Das Bildmaterial entstammt, chronologisch geordnet, erstens dem Buche von Fanconi, Zellweger und Botsztejn «Die Poliomyelitis und ihre Grenzgebiete» (Benno Schwabe, 1949), zweitens dem Aufsatz «Der heutige Stand der Poliomyelitisforschung» von Fanconi (Schweiz. Med. Jahrbuch 1955), drittens meinem Vortrage vor der Schweiz. Akademie der Med. Wissenschaften (Bulletin, Vol. 11, 1955) und viertens dem «Triangel» 1956 (Sandoz) Fanconi «Zur Pathomorphose der Poliomyelitis». Den verschiedenen Herausgebern und Verlegern möchte ich hiermit meinen besten Dank für die Überlassung von Clichés aussprechen.
Zürich, Mitte Oktober 1957.       Prof. G. Fanconi

Aktive Immunisierung
Heute hat das Problem der aktiven Immunisierung dasjenige der passiven ganz in den Hintergrund gedrängt. Es werden zurzeit Versuche mit zweierlei Vakzinen gemacht: Salk benützt mit Formalin abgetötete Vakzine, welche aus Gewebskulturen von Affennieren stammen und welche die drei Poliomyelitistypen enthalten. Sabin, Koprowski und andere versuchen, durch die orale Einverleibung von lebenden, aber abgeschwächten Poliostämmen die Immunisierung zu erzielen. Es ist zu hoffen, dass auf diesem Wege ein noch wirksamerer Impfstoff erhalten wird; bis heute aber ist das Versuchsstadium noch nicht überschritten und lebende Vakzinen sind noch gar nicht erhältlich.
SALK konnte zeigen, dass die abgetötete Vakzine den Neutralisationstest im Serum der geimpften Kinder ganz erheblich steigert (Abb. 21) und dass die Booster-Injektion, 6 Monate nach der Impfung gegeben, eine weitere erhebliche Steigerung des Neutralisationstestes bewirkt (Abb. 22). Mit der Salk-Vakzine kann man bereits nach 9 Tagen einen ziemlichen Anstieg des Neutralisationstestes erzielen. Leider weiss man heute noch nicht, wie lange dieser Titeranstieg anhält und ob er nicht nach einigen Jahren wieder verschwindet. SALK berichtete in Genf (Juli 1957), dass jedenfalls noch 3 Jahre nach der Impfung der Antikörpertiter ziemlich hoch ist, und dass er wahrscheinlich genügen wird, um das Zentralnervensystem gegen das Eindringen des Poliovirus zu schützen. Die im April 1955 allzu theatralisch geweckten Hoffnungen, durch die Salk-Impfung die Poliomyelitis besiegt zu haben, erhielten einen starken Dämpfer durch die Cutter-Katastrophe. Mehrere hundert Kinder wurden durch die Impfung gelähmt, weil der Impfstoff noch lebende Viren enthielt. In Genf 1957 erfuhren wir, dass die Katastrophe auf eine mangelhafte Filtration der Gewebskulturen zurückzuführen sei. Heute wird die Herstellung der SalkVakzine so scharf kontrolliert, dass eine Cutter-Katastrophe sich nicht mehr wiederholen kann. Seit der verschärften Kontrolle sind weit über 100 Millionen Impfungen vorgenommen worden, ohne dass je eine Lähmung durch sie bedingt worden wäre.
Die Mitteilungen in Genf (Juli 1957) über die Erfolge der Salkimpfung sind dermassen optimistisch, dass an ihrer Wirkung nicht mehr gezweifelt werden kann. In den Vereinigten Staaten ist bereits die Mehrzahl der Jugendlichen geimpft, und für das Jahr 1956 konnte statistisch ermittelt werden, dass nach zwei Impfungen 75 % und nach der dritten Impfung eine noch höhere Prozentzahl von Individuen von der Lähmung verschont geblieben sind. Die Erfahrungen in Chicago, auf Hawaii und an andern Orten haben gezeigt, dass man auch auf der Höhe einer Epidemie impfen kann, ohne dass dadurch die Poliomyelitis begünstigt wird. Umgekehrt gewann man den Eindruck, dass wahrscheinlich dank der Impfung bereits nach wenigen Monaten die Epidemie erlosch. Leider tritt ein genügender Schutz erst Wochen nach der Impfung ein, und wenn ein Kind in dieser Wartezeit angesteckt wird, so wird es natürlich noch erkranken. Ausser in den Vereinigten Staaten und in Kanada sind in Australien, Dänemark und der Tschechoslowakei die Mehrzahl der Jugendlichen geimpft worden. Auch in diesen Ländern ist im Jahre 1956 und bis zum Frühjahr 1957 die Zahl der poliomyelitischen Lähmungen ganz gewaltig zurückgegangen. In Australien ist zum Beispiel nur der fünfte Teil der Lähmungen aufgetreten, die auf Grund der Statistiken der vorhergehenden Jahre erwartet wurden.
Immerhin sind die erfreulichen, günstigen Berichte noch nicht restlos beweisend dafür, dass die Impfung wirksam ist, da die Poliomyelitishäufigkeit ausserordentlich grossen Schwankungen unterworfen ist, für die wir gar keine Erklärung haben. Es ist allerdings kaum dem Zufall zuzuschreiben, dass gerade diejenigen sonst stark heimgesuchten Länder, in denen ausgiebig geimpft worden ist, in den letzten 1½ Jahren von einer Polioepidemie verschont geblieben sind. Die bis zum 1. Oktober 1957 vorliegenden Ergebnisse der Impfung in der Schweiz sind ebenfalls sehr erfreulich. Die Impfungen begannen in grösserem Maßstabe im November 1956, und nach der Menge des abgegebenen Schutzstoffes kann man schätzen, dass an die 800 000 Individuen geimpft wurden.  Und nun die vorläufigen Ergebnisse: Abgeklärt wurden bis zum Oktober 1957 177 Polioerkrankungen:
Keine 
Lähmungen
Leichte 
Lähmungen
Mittelschwere Lähmungen Schwere  
Lähmungen
Gestorben
Nicht geimpft 148 55 39 14 32 8
Einmal geimpft 3 2 1
Zweimal geimpft 24 19 1 1 2 1
Dreimal geimpft 2 2
...
In den Vorjahren wurden 1952: 750, 1953: 1650 und 1954: 900 Poliofälle in der Schweiz gemeldet (ungefähre Zahlen aus einer Abbildung.).Zusätzlich existierte  eine Dunkelziffer weil nur ein Teil der aparalytischen Formen erfasst wurden; andere virale Erkrankungen mit Meningitis wurden aber mitgezählt.

Schlusswort
Die Geschichte der Kinderlähmung im 20. Jahrhundert gehört zu den faszinierendsten Kapiteln der Medizingeschichte überhaupt. Noch vor 70 Jahren ein dem praktischen Arzt kaum bekanntes Krankheitsbild, entwickelte sich die Poliomyelitis parallel mit der Hebung des Lebensstandards in den hochzivilisierten Ländern zur wichtigsten und am meisten gefürchteten Infektionskrankheit der letzten zwei Dezennien. Der Grösse der Gefahr entsprechend war die Reaktion der Wissenschaft und der für die Gesundheit verantwortlichen Behörden. In rascher Folge wurden die Erreger der schrecklichen Krankheit isoliert, dargestellt und gezüchtet, was erst die Herstellung einer wirksamen Vakzine ermöglichte. Wir dürfen heute hoffen, dass durch die Impfung in einigen Jahren die Kinderlähmung in eine harmlose Krankheit umgewandelt werden wird. Zentren für die Behandlung der akuten schweren Fälle mit teuren Respiratoren und Heime für die Wiederherstellung der Schwergelähmten wurden geschaffen. Bei der Versicherung gegen die schweren Schäden der Krankheit, auf freiwilliger Basis und durch die öffentlichen Krankenkassen, sprechen die Fachleute von einem beispiellosen Triumphzug.
Das Hauptverdienst in diesem gigantischen Kampf, der hoffentlich bald mit einem Siege des Menschen über das winzige Virus enden wird, gebührt zweifellos der National Foundation for Poliomyelitis in den Vereinigten Staaten. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist ein prophylaktischer Versuch mit einem Impfstoff auf so grosser Basis mit solchen Mitteln und solch wissenschaftlicher Genauigkeit durchgeführt worden. Um die Wirksamkeit des Impfstoffes zu prüfen, wurden 650 000 Kinder zum Teil mit der Vakzine, zum Teil mit einer Kontrollflüssigkeit (Placebo) gespritzt und damit der Beweis der prophylaktischen Wirkung erbracht. Aber auch den Ärzten, Krankenschwestern, Physiotherapisten und nicht zuletzt den Sanitätsbehörden unseres kleinen Landes gebührt unser Dank für all das, was bei uns erzielt wurde. Der Kampf gegen die Poliomyelitis, der bereits so viel erreicht hat und noch mehr verspricht, ist ein schönes Beispiel dafür, was die Zusammenarbeit von Grundlagenforschung, von Individual- und Sozialmedizin, von Behörden, Versicherungsgesellschaften und Erziehern zustande bringen kann.

Home  Liste der Neujahrsblätter