NGZ-Neujahrsblatt 1959,  74 S., mit 20 Abb.
Darwin und sein Werk
Hans Burla
Beagle at Santa Cruz River Argentina
Umschlagbild:
Beagle
German only
Inhaltsverzeichnis
Darwinismus gestern und heute
Darwins Jugend
Die Reise mit der «Beagle»   
Der Privatgelehrte 
Die Entstehung der Arten
    Vorgeschichte
    Inhalt
Die Abstammung des Menschen
Die geschlechtliche Zuchtwahl
Der Ausdruck der Gemütsbewegungen beim Menschen und den Tieren
Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation
Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer mit Beobachtungen über deren Lebensweise 
Die Bewegungen und Lebensweise der kletternden Pflanzen
Das Bewegungsvermögen der Pflanzen  
Die verschiedenen Einrichtungen, durch welche Orchideen von Insekten befruchtet werden
Die verschiedenen Blütenformen an Pflanzen der nämlichen Art
Die Wirkungen der Kreuz- und Selbstbefruchtung im Pflanzenreich
Insektenfressende Pflanzen .
Über den Bau und die Verbreitung der Korallenriffe
Vulkanische Inseln 
Geologische Beobachtungen über Südamerika, angestellt während der Reise der «Beagle» in den Jahren 1832 - 1836
Weitere geologische Publikationen 
Die Abstammungslehre  
Die Selektionstheorie
Der Neodarwinismus
Zitierte Literatur 
Darwinismus gestern und heute
Die Fragen, wie die Welt und die bestehenden Lebewesen geworden seien, haben wohl kaum einen Menschen unberührt gelassen. Doch sind die Vorgänge, nach denen gefragt wird, dem Anschauungsbereich eines jeden entrückt, spielen sie sich doch in Vorzeiten ab, so dass zunächst Offenbarung, Legende und Naturspekulation die Erkenntnislücke ausfüllen mussten. Der mosaische Schöpfungsbericht gestaltet die Antwort im Glaubensbereich und beabsichtigt nicht ein naturwissenschaftliches Protokoll zu sein. Auch die Schöpfungsmythen anderer Kulturbereiche und der Primitiven sind in dichterischer Form Symbolausdruck für das demütige Neigen vor der Macht, die gerade der ursprüngliche Mensch über dem Universum spürt und von welcher er sich abhängig fühlt. Schon Jahrhunderte vor Christi Geburt löste dann in weltweitem geschichtlichem Umschwung der Logos den Mythos ab, entstanden die Schöpfungsspekulationen der griechischen Philosophen wie Heraklit, Anaximander, Aristoteles, welchen Lehren aber noch keine naturwissenschaftlich ausreichende Qualität zugesprochen werden kann. Erst im 19. Jahrhundert tritt das Evolutionsdenken mit Lamarck und Darwin in naturwissenschaftliche Bahnen, zugleich eine Krönung der Empirie, die schon im Gefolge der Renaissance den reinen Logos ersetzt hat (1).
Heute wird der Darwinismus oft als abgetan betrachtet und stösst kaum mehr auf brennendes Interesse. Dabei vergisst man, dass er als naturwissenschaftliche Form des Denkens über Abstammungsfragen eine stets noch gültige Errungenschaft darstellt, die wohl auf lange Zeit hinaus bindend bleibt. Auch übersieht man, dass die moderne Evolutionsforschung in zunehmendem Mass Grundprinzipien der darwinistischen Selektionstheorie bestätigt. Das meist gefühlsmässige Sich-Abwenden vom Darwinismus geht also über seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung und künftige Fruchtbarkeit achtlos hinweg, es beruht, wenn überhaupt auf etwas Konkretem, auf der vielfältigen und wechselnden Rolle, die der Darwinismus während der letzten hundert Jahre auf weltanschaulichem Bereich gespielt hat.
Als 1859 das entscheidende Evolutionswerk Darwins, «The Origin of Species», im Druck erschien, erlebte es einen beispiellosen Verkaufserfolg, indem die allerdings kleine Auflage von 1250 Stück bereits am Tag ihres Erscheinens vergriffen war. Nun war Darwin damals bereits bekannt als Autor eines Reisebuches und einiger Fachpublikationen, was einen Teil des Verkaufserfolges zu erklären vermag. Auch soll man bedenken, dass vor hundert Jahren die Laienwelt einen viel innigeren Anteil nahm an den neuen Ergebnissen der Wissenschaft, fanden doch sogar Fachbücher einen weiten Widerhall im Volk und wurden wissenschaftliche Fragen in Gesellschaft diskutiert wie heute etwa ein neues Automodell. Entscheidend für den Erfolg des Darwin-Buches war aber zweifellos der Umstand, dass es ein Aufklärungsbedürfnis breiter Schichten erfüllte und Stellung nahm in einer Streitfrage, die seit Jahrzehnten aktuell war. Denn längst war man sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts klar, dass eine enge Interpretation des biblischen Schöpfungsberichts den Verhältnissen im Naturgeschehen nicht gerecht wurde und vor allem nicht mit den akkumulierten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten zweihundert Jahre vereinbar war. Doch hatte bislang eine annehmbare naturwissenschaftliche Evolutionstheorie gefehlt, und eine solche wurde nun geboten. In den folgenden Jahrzehnten vollbrachte die biologische Lehrmeinung eine völlige Umkehr, und mit Hilfe plausibler Schlagwörter, wie «Kampf ums Dasein» und «Überleben des Passendsten», drang der Darwinismus nun auch in die Weltanschauung vieler ein, bestimmte ihre Gesinnung und ihr Handeln. KARL MARX bezog aus der «Entstehung der Arten» die naturwissenschaftliche Grundlage zum Verständnis des Kampfes in der Geschichte, und auch heute noch wird jeder theoretische Marxist eine nähere Beziehung zum Darwinismus pflegen als die Mehrzahl der übrigen Menschen. Die geschichtliche Auswirkung des Darwinismus erschöpfte sich aber nicht mit dem Anklang, den er bei MARX fand, vielmehr hat seinerzeit nach einem Attentatsversuch auf den Deutschen Kaiser, als Stimmen gegen die aufwieglerische Wirkung des Darwinismus laut wurden, der Zoologe Ernst Haeckel den Hegemonieanspruch der Aristokratie folgerichtig auf Grund der darwinistischen Prinzipien abgeleitet. Im gleichen Sinn fanden Kolonialkriege als konkurrenzbedingte Naturgeschehen ihre wissenschaftliche Legitimierung. Soviel ist sicher: die politische und geschichtliche Rolle des Darwinismus ging von einem noch revisionsbedürftigen Verständnis des Evolutionsgeschehens und seiner Tragweite für kulturelle Belange aus. Einen Kulminationspunkt in der weltanschaulichen Überwertung der Abstammungslehre erreichte der grosse Zoologe Haeckel mit der Konstruktion eines materialistischen Monismus als Ersatzreligion für Aufgeklärte, der jedoch ein baldiges Ende fand. In Deutschland erhob sich 1906 unter der Leitung des Kieler Botanikers Johann Reinke ein «Keplerbund» als Gegenorganisation des Monisten-Bundes, mit dem Zweck: «Förderung der Naturerkenntnis bei vorurteilsfreier Erforschung der Natur und ihrer Gesetze und unter Festhaltung der sittlichen Kräfte des Christentums, wie beides in der Person Keplers vereinigt ist.» Schon um die Jahrhundertwende hatte sich auch in Zürich die Reaktion gegen Materialismus und Darwinismus erhoben. Als der Professor für Botanik an der Universität, Alfred Dodel, eine feurige Aufklärungsforderung «Moses oder Darwin» veröffentlichte, erwies sich der Zürcher Boden als steinig, und Dodel wurde sogar nahegelegt, sich nicht um die Mitgliedschaft der Naturforschenden Gesellschaft zu bewerben.
Bedenkt man, dass eine reaktionäre Ablehnung des Darwinismus, soweit er in die Weltanschauung übergegriffen hatte, bereits um die Jahrhundertwende erfolgreich war, so mutet es als krasser Anachronismus an, wenn Despoten wie Mussolini und Hitler auf die bereits als untauglich erkannten Schlagwörter zurückgriffen. Im «Mein Kampf» lesen wir etwa: «Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unter ihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen wie Schnee in der Märzsonne. Im ewigen Kampfe ist die Menschheit gross geworden - im ewigen Frieden geht sie zugrunde... In dieser Auslese aber liegt die Bürgschaft für den Erfolg... Die Natur... setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiss erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen... » Aussprüche dieser Art sind groteske Missbräuche darwinistischen Gedankengutes, die sich einer ebenso missverstandenen Rassengeschichte des Menschen beigesellten. Für den modernen Evolutionstheoretiker ist es eine bittere Erfahrung, dass das finstere Motto vom Kampf ums Dasein, ein darwinistisches Prinzip von beschränkter Gültigkeit, unter den Bedingungen von Ignoranz und Fanatismus in Ideologien eingebaut wurde und sich gegen den Menschen selber wandte. Trotz alledem soll und darf nicht vergessen werden, dass der Darwinismus eine der grössten wissenschaftlichen Leistungen darstellt, dass von religiöser Seite dem Entwicklungsgedanken gegenüber keine ernsthaften Einwendungen mehr erhoben werden können, dass die Biologie dem Darwinismus wertvolle Impulse verdankt, die sich nach hundert Jahren noch nicht erschöpft haben, und dass die Evolutionsauffassung, wie sie Darwin begründete, aus dem heutigen naturkundlichen Weltbild nicht mehr wegzudenken ist. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit bleibt die Evolutionslehre wertvollstes Wissensgut und verdient, auf gründliche Weise in den Schulen vermittelt zu werden. Damit hebt sich auch die Bedeutung ab, die dem Darwinismus heute noch als Bildungselement zukommt.
Darwin ist einer der Grössten in der Geschichte der Naturwissenschaft, vergleichbar in der Bedeutung etwa mit Leibniz oder Newton. Er wirkte nicht nur auf dem Gebiet der Abstammungslehre bahnbrechend, sondern förderte verschiedene andere Zweige der Biologie entscheidend und erwarb sich auch als Geologe bleibende Verdienste. Von seinem Leben zu erzählen, alle seine grösseren Werke zu besprechen und vor allem Inhalt und Geltung des nach ihm benannten Darwinismus zu umreissen, ist das Anliegen dieses Neujahrsblattes. Zugleich soll es ein Beitrag sein zur Feier des hundertjährigen Bestehens seines Hauptwerkes «Entstehung der Arten».
Der Besprechung der Werke Darwins liegt die deutsche Übersetzung durch J. Victor Carus zugrunde, und auch die Darwin-Zitate gehen auf diese deutsche Quelle zurück. Fast durchweg beschränken sich die Besprechungen auf eine Wiedergabe der ursprünglichen Buchinhalte, und nur da und dort sind Darwins Auffassungen nach dem Stand der heutigen Forschung bewertet. Bei Themen, die weitab vom Arbeitsgebiet des Besprechers liegen, wurden die jeweiligen Manuskriptteile in verdankenswerter Weise von Zuständigen durchgesehen: die botanischen Kapitel von Prof. Alfred Ernst, das Kapitel über die Abstammung des Menschen von Prof. Adolf H. Schultz, die geologischen Kapitel von Dr. B. Ziegler, die Kapitel über Ausdrucksbewegungen und geschlechtliche Zuchtwahl von Hans Kummer. Überdies las Marco Schnitter das ganze Manuskript und beantragte manche wertvolle Verbesserung. In keinem Fall aber sind allfällige Unzulänglichkeiten des Textes mit den Ansichten dieser Revisoren zu identifizieren. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich Herrn Prof. Hans Steiner, Redaktor der Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, der die Anregung zu diesem Neujahrsblatt gab und die reiche Ausstattung ermöglichte.

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