NGZ-Neujahrsblatt 1964, 32S., 19Abb.
Über die Entwicklung der Wissenschaft im Brückenbau
Fritz Stüssi
Brückenbau
Umschlagbild:
US-Jubiläums-Briefmarke mit
GeorgeWashington Brücke
German only
Vorwort
Der nachfolgende Versuch, die Entwicklung der Wissenschaft oder des wissenschaftlichen Denkens im Brückenbau in einem zusammenfassenden Überblick darzustellen, beruht auf einer Reihe von technischen und technisch-geschichtlichen Einzeluntersuchungen. Die Anregung zu einem Gesamtüberblick verdanke ich einer Einladung der William Marsh Rice University in Houston, Texas, an ihrem «SemiCentennial» im Oktober 1962 einen Festvortrag zu halten. Einzelne Teile dieses Vortrages «On the Evolution of Science in Structural Engineering» sind in diesem Neujahrsblatt verwendet worden.
Inhalt
Römische Brücken
Cäsar: Rheinbrücke
Augustus Brücke in Rimini
Leonardo da Vinci: Entwurf über Goldenes Horn
Muschenbroek: Knickversuche
Leonhard Euler
Grubenmann
Navier
Tetmajer
Varignon: Seilpolygone (und Culmann)
Koechlin: Entwurf Eiffelturm
Mathematische Baustatik ( y"+by'+cy+F(x)=0 )
Grenzspannweiten
O.H. Ammann: George Washington Bridge
Einleitung:
Die Anfänge der Kunst des Brückenbaus verlieren sich im Dunkel vorgeschichtlicher Zeiten, doch steht fest, dass diese Anfänge mit dem Beginn der menschlichen Zivilisation zusammenfallen müssen. Sobald ein Verkehr zwischen benachbarten Siedlungen zum Austausch von Gütern, Erfahrungen und Ideen einsetzte, wurden auch Brücken zur Überquerung natürlicher Hindernisse notwendig. Die ältesten Brücken können wir uns ähnlich vorstellen wie die Brücken, die heute noch bei primitiven Völkern angetroffen werden: Ein umgestürzter Baumstamm dient zur Überquerung eines Baches oder ein aus Schlingpflanzen geknüpfter Hängesteg überspannt eine tiefe Schlucht. Mit der Zeit werden auch Furten, diese «natürlichen» Flussübergänge, überbrückt worden sein, weil hier die Erstellung von Zwischenunterstützungen («Pfeilern») durch einzelne Steinblöcke ohne allzu grosse Schwierigkeiten möglich war. Frühe geschichtliche Kunde besitzen wir von der Brücke, die König Nebukadnezar im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt in Babylon über den Euphrat erstellen liess. Balken aus Zedern- und Zypressenholz überspannten die verhältnismässig kleinen Öffnungen von wenigen Metern zwischen den steinernen Pfeilern, die nach vorübergehender Umlenkung des Stromes im Trockenen gegründet worden waren.
Einen ersten Höhepunkt erlebte der Brückenbau zur Zeit des römischen Weltreiches. Für die Verwaltung dieses grossen Imperiums bedeutete der Ausbau eines leistungsfähigen Verkehrsnetzes und damit auch von Brücken eine staatspolitische Notwendigkeit. Bei den Römern weist der Brückenbau auch kultische Zusammenhänge auf worauf die Bezeichnung des Priesters als «pontifex» (Brückenbauer) und des Hohepriesters als «pontifex maximus» deutlich hinweist. Bei den Römern war der Bau von Brücken aus Stein und Holz eine hoch entwickelte Kunst, die sich in der Bemessung auf empirische Regeln stützte, und wir haben anzunehmen, dass mindestens anfänglich die Kenntnis und Überlieferung dieser Regeln bei der Priesterschaft lag. Mit dem Zerfall des römischen Weltreiches zerfiel auch die Kunst des Brückenbaues; es fehlten nun nicht nur die politische Notwendigkeit, sondern im Zusammenhang damit vor allem auch die materiellen Mittel für die Ausführung von solchen grossen Bauwerken. Wohl bildeten sich im Spätmittelalter einzelne Brüderschaften mit der Aufgabe, an bestimmten wichtigen Flussübergängen Brücken zu erstellen und zu erhalten, wesentliche technische Fortschritte resultierten jedoch daraus nicht.
Ein zweiter Höhepunkt der Brückenbaukunst zeigt sich erst wieder im 18. Jahrhundert. Auch in dieser Periode war der Brückenbau noch völlig handwerklich empirisch orientiert. Immerhin standen über Einzelheiten des Kräftespieles einzelne Erkenntnisse zur Verfügung, die wir durchaus als Anfänge von wissenschaftlichen Grundlagen bezeichnen dürfen. Diese wissenschaftlichen Grundlagen wurden jedoch erst vom Anfang des 19. Jahrhunderts an systematisch ausgebaut und weiter entwickelt.
Es besteht somit die vom heutigen Stand des Brückenbaues aus bemerkenswerte Tatsache, dass die Kunst des Brückenbaues Leistungen hervorbrachte, die heute noch unsere volle Bewunderung verdienen, bevor die von uns dazu als notwendig angesehenen wissenschaftlichen Grundlagen existierten. Die folgende Darstellung setzt sich zur Aufgabe, die Entwicklung des Brückenbaues im Zusammenhang mit der Entwicklung wissenschaftlicher Grundlagen im Überblick darzustellen. Da der Brückenbau auch für die andern konstruktiven Tätigkeitsgebiete des Bauingenieurs repräsentativ ist, wird damit gleichzeitig auch die Entwicklung der heutigen konstruktiven Ingenieurwissenschaften skizziert.

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