NGZ-Neujahrsblatt 1971, 40S., 28 Abb.
Der Bauplan der Angiospermen-Blüte
Friedrich Markgraf
Passiflora coerulea
Umschlagbild: Blüte einer Passionsblume (Passiflora coerulea) P.Peisl ; German only

Inhalt:

Die Achse
Der Kelch
Die Blumenkrone
Die Staubblätter
Die Fruchtblätter
Synkarpie
Samenanlagen
Sporophylle
Die Stellung der Blütenphyllome
Verwachsene Zyklen
Symmetrie
Andere Deutungen
Pseudanthien
Auswahl aus einschlägiger Literatur

Stärker vielleicht als zu Beginn dieses Jahrhunderts fühlt sich heute der Mensch Unsicherheiten, Zweifeln und Gefahren ausgesetzt, «in einer nicht mehr heilen Welt», wie die poetisierende Formel heisst. Was ist denn nicht mehr heil? Doch nur das, was er selbst zerstört hat durch Masslosigkeit oder durch Einseitigkeit im Tun und im Denken. Empfindet man es nicht als Vorwurf und als Mahnung, unsere Grenze einzuhalten, dass die Natur, von der wir doch auch ein Teil sind, unbeirrt weiter wirkt, als ob unser Pessimismus oder gar unser Zorn selbstverständlich nicht ernst zu nehmen sei? Sie hat Sicherheit in dem geordneten Bau ihrer Organismen.
Am unmittelbarsten erkennen wir solche Ordnung im gesetzmässigen Aufbau der Pflanzen, die uns umgeben, weil sie ihre wichtigen Organe mehr als die Tiere frei nach aussen entfalten. Ob beachtet oder nicht bringen die Pflanzen ihre Blüten hervor, ein Wunder an Gesetzmässigkeit für jeden, der bereit ist, es wahrzunehmen.

Die Achse
Wollen wir einmal darauf achten. Da ist z. B. die Hahnenfuss-Blüte (Abb. 1) (Ranunculus acer). Wenn wir sie längs durchschneiden, zeigt sich ihr innerster Teil als ein halbkugeliger oder kegelförmiger Abschluss des Stengels. Dabei trennen winzige Abstände entlang dieses Kegels die Organe, die seitlich daran sitzen. Offenbar haben wir ein verkürztes Stengelende vor uns, das sich aus ganz kurzen Gliedern zwischen den Kelch- und Kronblättern, den Staubgefässen und den Fruchtknötchen aufbaut. Unterhalb der Blüte ist es uns aus Gewohnheit vertraut, dass der Stengel von Blatt zu Blatt aus Gliedern aufgebaut ist; nur sind sie da meist mehrere Zentimeter lang, in der Blüte dagegen kaum Millimeter. Das ist die erste Gestaltsregel, die in der Blüte herrscht: Verkürzung der Achse, wie man den Stengel allgemeiner benennt.
Diese Verkürzung gehört zur Blüte, aber die Voraussetzung dafür besitzen die Blütenpflanzen schon in ihrer vegetativen Region. Bei vielen unserer Bäume beobachtet man, dass Zweige, die die Ausdehnung der Krone vergrössern, von Blatt zu Blatt lange Achsenglieder zeigen, dass aber im nächsten Jahr aus den Achselknospen dieser Blätter «Kurztriebe» hervorgehen, die die Baumkrone nicht vergrössern, sondern füllen. Es sind Blattbüschel, in denen nur kurze, oft sehr kurze Achsenglieder von Blatt zu Blatt wahrnehmbar sind.
Auch die Blüte kann also als Kurztrieb aufgefasst werden. Mit den Achsengliedern verkürzt sich zugleich noch etwas anderes.: der Weg für die Zuleitung der Nährstoffe. Die Blüte hat einen besonders grossen Nahrungsbedarf, weil sie im allgemeinen nicht oder doch weniger grün ist als die Laubsprosse, daher nicht oder wenig assimiliert. Dagegen muss sie die eiweissreichen Pollenkörner in grosser Menge bilden und die oft zahlreichen Samen mit ihrem Vorrat an Reservestoffen für die Keimung. Auch hierfür ist es einleuchtend, dass sie sich als Kurztrieb gestaltet.
Das ist jedoch nur eine Voraussetzung, nicht eine Ursache ihres Bauplans. Denn neu ist an ihr eine Differenzierung der Organe, die an der Achse sitzen, in senkrechter Richtung, als Kelchblätter, Kronblätter usw., die gesetzmässig in kurzen «Regionen» aufeinander folgen. Ein zuverlässiger Regulator, dessen Wesen man nicht kennt, sorgt dafür, dass die Sprossspitze des Blüten-Kurztriebes in einem bestimmten Zeitpunkt Kelchblätter, etwas später nur noch Kronblätter usw. ausbildet. Es kann vorkommen, besonders bei Blüten mit schraubiger Anordnung ihrer Teile, dass eine neue Blattanlage gerade im Zeitpunkt der Umschaltung von einem Blatt-Typ in den nächsten entsteht. Dann kommt es zu Übergangsformen.
Mit der Achsenverkürzung ist in der Blüte eine neue Gestaltsänderung verbunden, die der vegetative Kurztrieb nicht aufzuweisen hat: das Wachstum der Achse wird endgültig abgeschlossen. Die Kurztriebe eines Kirschbaumes oder einer Lärche können in jedem Jahr weiterwachsen, manchmal sogar als Langtriebe; der Kurztrieb «Blüte» kann das nicht oder doch nur in krankhaften Ausnahmefällen. Aber er hat dafür eine neue Fähigkeit ausgebildet: das Achsenende verbreitert sich. Die Rundung, die beim Hahnenfuss die Fruchtknötchen trägt, ist dicker als die Achsenglieder unter ihr. Sie kann auch abgeflacht oder als Becher vertieft sein, etwa bei den Rosen (Abb. 24). Bei der Bachnelkenwurz (Geum rivale), den Passionsblumen und bei mehreren anderen Pflanzen kehrt sogar oberhalb des Kelches noch ein stielförmiges Stück, wahrscheinlich Achse, wieder (Abb. 2). Es ist interessant als Entsprechung zu den vegetativen Kurztrieben, die - allerdings nur gelegentlich - mit gestreckter Achse als Langtriebe weiterwachsen können. Die Hemmung ist in der Blüte jedoch offenbar grösser: nach einigen Millimetern endet jener Stiel und trägt als «Gynophor» die Fruchtknoten oder als «Androgynophor » die Staubgefässe und den Fruchtknoten. Es ist aber wohl kein Zufall, dass gerade bei Geum rivale Durchwachsungen der Blüte gar nicht so selten vorkommen. Die Achse verlängert sich dann oberhalb des Kelches weit hinauf und bildet noch einmal eine vollständige Blüte.
Voraussetzung ist auch hierfür der starke Nahrungs-Zustrom zur Blüte. Teleologisch gesehen ist die Achsenverkürzung nützlich, indem sie durch Zusammendrängung der Blütenorgane den Zutritt der Bestäuber wirksamer macht und überhaupt fördert. In vergleichender Betrachtung stellt man schlicht die Erkenntnis fest, dass durch dies einfache Merkmal die Blüte ein eigener Gestaltstyp unter den Teilen der Pflanze geworden ist [50].
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