NGZ-Neujahrsblatt 1978, 40S. 25Abb.
Entwicklung einer Blüte
Philippe Matile
  Flower of Ipomoea tricolor (CAV.) (morning glory)
 
Philippe Matile
Entwicklung einer Blüte

Blüten der Prunkwinde Ipomoea tricolor (CAV.)
German only
Einleitung:
Zugegeben, das Thema des vorliegenden Neujahrsblattes ist etwas ausgefallen. Obwohl der Leser vielleicht Prunkwinden im Garten zu ziehen pflegt und von der eigenartigen Entwicklung der kurzlebigen Blüte angesprochen ist, mag er doch besondere Anstrengungen zur Erforschung der Alterung dieser Blüte als überflüssig empfinden. Es ist tatsächlich nicht zu leugnen, dass Stoffwechsel und Funktion der farbigen Kronblätter, etwa im Vergleich zur Primärproduktion der grünen Blätter oder zur Bedeutung anderer Pflanzenorgane von untergeordnetem Interesse sind. Kurz, eine Rechtfertigung der hier dargestellten Untersuchungen drängt sich auf.
Das wissenschaftliche Problem, welches uns vor zehn Jahren auf die ephemeren Blüten stossen liess, kommt im folgenden Zitat aus WILHELM PFEFFERS Pflanzenphysiologie von 1897 zum Ausdruck: «Voraussichtlich schreitet die Zerspaltung von Proteinstoffen ununterbrochen fort und kommt wahrscheinlich auch nicht zum Stillstand, wenn die ausgewachsene Pflanze nur noch für die Erhaltung des Bestehenden zu sorgen hat. » Intuitiv schloss PFEFFER aus den wenigen damals bekannten Beispielen von Eiweissauflösung in abgeschnittenen Pflanzenteilen, keimenden Samen oder verdunkelten Pflanzen auf eine allgemeine Labilität der Proteine. Beim damaligen Stand des experimentellen Handwerks bestand keine Möglichkeit, die kühne Hypothese eines Nebeneinanders von Synthese und Auflösung der Eiweisse zu beweisen. Selbst heute bietet die Erfassung des Umtriebs erhebliche Schwierigkeiten. Aber PFEFFER hat zweifellos richtig gesehen: der «continuierliche Eiweisszerfall», die metabolische Labilität des Zytoplasmas, ist ein wesentliches Merkmal des Lebens und nichts weniger als ein Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung, der fortschreitenden Veränderung des Bestehenden.
Fortschreitende Veränderung: unsere kurzlebige Prunkwindenblüte kennt kaum eine Unterbrechung des Gestaltwandels. Rasches Wachstum der Blütenknospe, Entfaltung der Krone, Verblühen, Alterung und Tod der Korolle (farbige Blumenkrone) schliessen fast unmittelbar aneinander an. Es war jedoch nicht der ästhetische Gehalt dieser Entwicklung, der uns zur wissenschaftlichen Arbeit mit der ephemeren Blüte bewog. Am Phänomen der Eiweissauflösung interessiert, suchten wir nach einem möglichst eindrucksvollen Abbauprozess in einem pflanzlichen Organ. Dabei stiessen wir auf eine ältere Arbeit von SCHUMACHER (1932), in welcher enthusiastisch über Eiweissumsetzungen in kurzlebigen Blütenblättern berichtet wird: «Die Feder des Uhrwerks wird gleichsam gespannt, und in diesem Spannungszustand verharrt die Blüte bis zu der in den ersten Nachmittagsstunden erfolgenden explosionsartigen Katastrophe. Die Geschwindigkeit, mit der dann eine Spaltung der Eiweisse einsetzt, ist geradezu ungeheuerlich und dürfte zu den gewaltigsten der bis jetzt im Pflanzenreich bekannten Stoffumsetzungen gehören. »

Das klang sehr vielversprechend; die Begeisterung des Autors über Befunde an Phyllocactus und anderen ephemeren Blüten war über Jahrzehnte hinweg ansteckend.
Beim Griff nach der Prunkwinde ahnten wir freilich nicht, dass uns die blühfreudige Pflanze weit über die zunächst beabsichtigten Untersuchungen hinaus beschäftigen würde. Im Lauf der Jahre entstand eine Reihe von Arbeiten, in welchen die eigenartige Entwicklung der Prunkwindenblüte, vor allem aber die ungewöhnlich rasche Alterung unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht wurde. Es war verlockend, diese Arbeiten in einer kleinen Monographie zusammenzustellen, nicht um den Leser mit einer neuen Theorie der pflanzlichen Entwicklung zu verblüffen, sondern um am Beispiel der ephemeren Blüte an die Armut der Biologie vor dem so grundlegenden Phänomen der Entwicklung zu erinnern. «Eine Hauptursache der Armut in den Wissenschaften ist meist ihr eingebildeter Reichtum» lässt BRECHT den Helden seines Schauspiels Galileo Galilei ausrufen. Niemand zweifelt am immensen Reichtum der Biologie unserer Gegenwart. Ob der Reichtum eingebildet ist, ob uns noch fundamentale Einsichten zu einem wahren Verständnis des Lebens fehlen, dieser Frage soll am Schluss der kleinen Schrift kurz nachgegangen werden.
Als Autoren des phytogerontologischen Berichts über die Prunkwindenblüte zeichnen eine ganze Reihe von Mitarbeitern und Gästen des Labors für Pflanzenphysiologie der ETH: Felix Winkenbach, Vreni und Andres Wiemken, Bruno Baumgartner, Hans Kende, Jakob Hurter, Ruedi Richner, Albert Lüscher, Peter Suchovsky, Sonia Türler und Ruth Rickenbacher, nicht zu vergessen Paul Frick, der uns jahraus, jahrein mit reich blühenden Pflanzen versorgte.

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