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Zitat aus Kap. 1.1:
"Absolut zuverlässig in jedem Herbst ist Ginkgo
biloba mit seiner ästhetischen Spitzenleistung. Dieser häufige
Parkbaum, ein naturnah nur noch in China vorkommendes lebendes Fossil,
präsentiert sich am Ende der Blattentwicklung in einem golden leuchtenden
Kleid (Bild 3). Dieses Phänomen, aber auch all die anderen Beiträge
zur Augenweide können die Neugierde nach den stofflichen, physiologischen
und funktionellen Hintergründen der herbstlichen Laubverfärbung
wecken."
Schlussbetrachtung (nur der Anfang)
Die Lösung des Rätsels ist noch unvollständig,
aber die Konturen des Chlorophyllabbaus beginnen sichtbar zu werden. Das
Grün verschwindet nicht mehr spurlos. Die chemische Struktur eines
ersten Abbauprodukts des Porphyrinteils ist aufgeklärt, weitere Produkte
sind soweit identifiziert, dass sie ebenfalls gereinigt und bearbeitet
werden könnten. Noch bestehen grosse Lücken in der biochemischen
Beschreibung des Abbauwegs. Vor allem fehlt das zentrale Element in Form
des Vergilbungsenzyms, das die Ringöffnung besorgt. Bei diesem Enzym
wird später die molekularbiologische Weiterführung der Arbeit
ansetzen müssen. Enzyme mit ausschliesslich seneszenzbedingter Aufgabe
sind bisher unbekannt geblieben. Das Vergilbungsenzym dürfte ein solches
Protein sein, dessen Gen möglicherweise nur in der Schlussphase der
Blattentwicklung exprimiert wird. Die molekularbiologische Bearbeitung
dieses Gens müsste sich jedenfalls im Hinblick auf die noch schleierhaft
gebliebene Regulation der Seneszenz lohnen.
Das Rätsel ist also «im Prinzip» gelöst.
Bekanntlich deutet diese beliebte Ausdrucksweise an, dass eigentlich das
Gegenteil der Fall ist. Und so ist es in der Tat: im grösseren Rahmen
von Rätseln, die uns das Phänomen Leben aufgibt, wird die Aufklärung
des Chlorophyllabbaus nur eine ziemlich unbedeutende Beschreibung eines
Stoffwechselweges darstellen und wenig beitragen zur Erkenntnis der lebenden
Zellen, welche den unerlässlichen Schauplatz für das biochemische
Geschehen bilden. Die Aneinanderreihung von Teilreaktionen zu Stoffwechsel-ketten
und -netzen und ihre Verbindung mit dem Genom mögen den Eindruck einer
vollständigen Erklärung für ein Lebensphänomen wie
Blattvergilbung erwecken. Lösungen von Rätseln, die wir auf der
biochemischen Ebene finden, sind jedoch insofern unvollständig, als
sie stillschweigend Naturdinge voraussetzen, im einfachsten Fall lebende
Zellen, welche nicht auf Chemie reduzierbar sind. Zellen und all die höheren
Organisationsstufen des Lebens bleiben «offenbare Geheimnisse»,
die wir zwar täglich vor Augen, aber weder verstanden noch mit der
Aufklärung biochemischer Zusammenhänge erklärt haben. Diese
Einsicht mag ein Anlass zu Bescheidenheit und tiefem Respekt vor dem Leben
sein. ... |