Neujahrsblatt 1992, 194. Stück, 46 Seiten, 32 Bilder
Vom Ergrünen und Vergilben der Blätter
Philippe Matile
 
Rosskastanien Blaetter Zitat aus Kap. 1.1:
"Absolut zuverlässig in jedem Herbst ist Ginkgo biloba mit seiner ästhetischen Spitzenleistung. Dieser häufige Parkbaum, ein naturnah nur noch in China vorkommendes lebendes Fossil, präsentiert sich am Ende der Blattentwicklung in einem golden leuchtenden Kleid (Bild 3). Dieses Phänomen, aber auch all die anderen Beiträge zur Augenweide können die Neugierde nach den stofflichen, physiologischen und funktionellen Hintergründen der herbstlichen Laubverfärbung wecken."

Schlussbetrachtung (nur der Anfang)
Die Lösung des Rätsels ist noch unvollständig, aber die Konturen des Chlorophyllabbaus beginnen sichtbar zu werden. Das Grün verschwindet nicht mehr spurlos. Die chemische Struktur eines ersten Abbauprodukts des Porphyrinteils ist aufgeklärt, weitere Produkte sind soweit identifiziert, dass sie ebenfalls gereinigt und bearbeitet werden könnten. Noch bestehen grosse Lücken in der biochemischen Beschreibung des Abbauwegs. Vor allem fehlt das zentrale Element in Form des Vergilbungsenzyms, das die Ringöffnung besorgt. Bei diesem Enzym wird später die molekularbiologische Weiterführung der Arbeit ansetzen müssen. Enzyme mit ausschliesslich seneszenzbedingter Aufgabe sind bisher unbekannt geblieben. Das Vergilbungsenzym dürfte ein solches Protein sein, dessen Gen möglicherweise nur in der Schlussphase der Blattentwicklung exprimiert wird. Die molekularbiologische Bearbeitung dieses Gens müsste sich jedenfalls im Hinblick auf die noch schleierhaft gebliebene Regulation der Seneszenz lohnen.
Das Rätsel ist also «im Prinzip» gelöst. Bekanntlich deutet diese beliebte Ausdrucksweise an, dass eigentlich das Gegenteil der Fall ist. Und so ist es in der Tat: im grösseren Rahmen von Rätseln, die uns das Phänomen Leben aufgibt, wird die Aufklärung des Chlorophyllabbaus nur eine ziemlich unbedeutende Beschreibung eines Stoffwechselweges darstellen und wenig beitragen zur Erkenntnis der lebenden Zellen, welche den unerlässlichen Schauplatz für das biochemische Geschehen bilden. Die Aneinanderreihung von Teilreaktionen zu Stoffwechsel-ketten und -netzen und ihre Verbindung mit dem Genom mögen den Eindruck einer vollständigen Erklärung für ein Lebensphänomen wie Blattvergilbung erwecken. Lösungen von Rätseln, die wir auf der biochemischen Ebene finden, sind jedoch insofern unvollständig, als sie stillschweigend Naturdinge voraussetzen, im einfachsten Fall lebende Zellen, welche nicht auf Chemie reduzierbar sind. Zellen und all die höheren Organisationsstufen des Lebens bleiben «offenbare Geheimnisse», die wir zwar täglich vor Augen, aber weder verstanden noch mit der Aufklärung biochemischer Zusammenhänge erklärt haben. Diese Einsicht mag ein Anlass zu Bescheidenheit und tiefem Respekt vor dem Leben sein. ...

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1     Herbstliche Laubverfärbung
1.1  Die Augenweide
1.2  Optische Eigenschaften und Pigmente
1.3  Deutung der Herbstfärbungen
2     Blattseneszenz
2.1  Umverteilung von Nährstoffen
2.2  Seneszenz als Entwicklungsprozess
2.3  Regulation der Blattseneszenz
3     Ergrünen
3.1  Plastidendifferenzierung
3.2  Chlorophyllsynthese
3.3  Pigment-Protein-Komplexe
4     Chlorophyllabbau
4.1  Chlorophyllkataboliten
4.2  Biochemie des Abbaus
4.3  Bedeutung des Chlorophyllabbaus
5     Schlussbetrachtung
6     Literatur

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