NGZ-Neujahrsblatt 1994, 55 S., 17 Abb.
Wald und Wüste
Vergleich zweier gegensätzlicher Naturräume
Peter Peisl
Wald von Rancho Grande, ca.W68°12',N10°21'
  
Wald und Wüste
Peter Peisl, Zürich
  
Welwitschia-Vlakte, ca. E14°45', S22°30'
Oberes Umschlagbild
Der «Wolkenwald von Rancho Grande» im Henri-Pittier-Nationalpark in der Küstenkordillere Venezuelas wird von Volkmar Vareschi (1980) als «einer der üppigsten der Welt» beschrieben, als das «Optimum der Vegetation unseres Planeten». Das stabile Ökosystem beherbergt etwa 1100 Arten von Gefässpflanzen und ist stark gemischt: Auf einem Areal von 1,5 Hektaren wurden 750 Bäume von über 10 cm Stammdurchmesser gezählt, die 190 verschiedenen Arten angehören. 23. Juli 1991
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Vergleichende Charakterisierung
  2.1 Definitionen
  2.2 Organische Masse, Stoffumsätze, Böden . .
  2.3 An den Grenzen der Existenz
  2.3 Sind Wälder und Wüsten Systeme?
3 Wüsten, einfache Lebensräume?3.1 Begegnung
  3.2 Artenarme und artenreiche Wüsten
  3.3 Die blühende Wüste
  3.4 Wasser
  3.5 Bäume in der Wüste
  3.6 Sukkulenten
  3.7 Tierleben
  3.8 Fische in der Wüste
  3.9 Leben im losen Sand
  3.10 Mikroorganismen und Flechten
4 Wald, die Vegetation des Überflusses?
  4.1 Das Wechselspiel der begrenzenden Faktoren
  4.2 Das biologische Kapital
  4.3 Das Prinzip Dominanz
  4.4 Der Artenreichtum der Tropenwälder
  4.5 Das Bioklima
  4.6 Strukturen
  4.7 Das Überwinden von Distanzen
  4.8 Das Blühen im Wald
  4.9 Das Vermeiden und Abwehren von Feinden
  4.10 Wälder als Orte der Primatenevolution
5 Überblick
6 Literatur
 
Unteres Umschlagbild
Die «Welwitschia-Vlakte» in der Namibwüste östlich von Swakopmund. Die anscheinend sehr öde Felsenlandschaft ist standortmässig stark differenziert und beherbergt eine unglaublich reiche Flora und Fauna. Ausser der berühmten Welwitschia haben wir viele weitere Pflanzenarten gefunden, z.B. die Nara-Pflanze (Acanthosicyos horrida, ein Kürbisgewächs) und folgende Sukkulenten: Hoodia, Trichocaulon (Asclepiadaceen), Sarcocaulon (Buschmannskerzen, Geraniaceen), Commiphora (niedere sukkulente Bäume aus der Familie der Weihrauchgewächse, Burseraceae), Lithops (Aizoaceae), Abe (Liliaceae), Othonna (Asteraceae) und Euphorbia (Wolfsmilch). Wir begegneten verschiedenen Käfem, Ameisen, Echsen, einem tagaktiven Gecko, einer kleinen Puffotter (Bitis cornuta) und als Überraschung einem Trupp junger Strausse. Analog zu Vareschis Aussage zum oberen Bild, kann man hier vielleicht vom biologisch reichsten Wüstenstandort der Erde sprechen.  5. Oktober 1984

1 Einleitung
Von den urtümlichen Lebensräumen sind Wälder und Wüsten - neben den arktischen und alpinen Zonen und den Meeren - die letzten verbliebenen Gebiete, die grössere Flächen einnehmen. In ihnen können wir noch Natur erleben, wie sie sich über unvorstellbar lange Zeiträume entwickelt hat, und sie wissenschaftlich erforschen. Urwälder und Urwüsten sind also Gegenstände dieses Neujahrsblattes, nicht die vielen vom Menschen geschaffenen sekundären Wüsten und nicht die gepflegten Forste. Wir wollen verstehen lernen, wie unbeeinflusste Vegetation in Raum und Zeit strukturiert ist, wie sie eine Fülle angepassten, vielseitig verknüpften Lebens beherbergen kann.
Vom Menschen und seinem Wirken in der Natur soll also nicht direkt die Rede sein. Die Texte wollen jedoch Anlass sein zur Besinnung auf unsere Herkunft und unsere heutige Beziehung zur Natur. In der Urvegetation können wir uns ein Bild davon machen, welcher Macht und Unerbittlichkeit unsere frühen Vorfahren gegenüberstanden, welchen Herausforderungen ihrer geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte sie begegneten. «Wald» und «Wüste» sind auch für uns heutige Menschen noch emotionell besetzte Wörter. Dass sie uns nicht gleichgültig lassen, zeigt schon das reiche Angebot der Buchhandlungen zu diesen Themen. Dabei liegen Wüsten und Wälder ausserhalb unseres eigentlichen Lebensbereiches: Die Menschheit hat den Raum zwischen ihnen besiedelt oder sich ihn dort durch Bewässern bzw. Roden geschaffen. Beiden Lebensräumen haftet etwas Unheimliches an, jedem in seiner eigenen Weise. Märchen und Sagen geben darüber Aufschluss. Fremd sind sie uns beide nicht, denn wir haben eh und je in ihrer Nachbarschaft gelebt.
Unser Verhältnis zum Wald hat zwei Aspekte: Einerseits machen wir ihn zum Objekt des Wirtschaftens, Forschens und Betreuens im Bewusstsein der Macht über die Natur und unserer Verantwortung für sie. Anderseits neigen wir dazu, uns der Urnatur in romantischer Überhöhung zu erinnern (s. H. Voegeli, 1988). Wir betreten und nutzen den Wald, und dies tun wir mit leisen Gefühlen des Triumphes. Viele von uns empfinden eben tief in sich die Wildnis immer noch als ihren Urfeind.
Der Wüste gegenüber scheinen unsere Gefühle andere zu sein: Der Geograph Alfons Gabriel (1978) beschreibt die «tiefe Erschütterung des Besuchers» ob den «Schrecken und den Herrlichkeiten der Wüste»; sie «packt mehr als jede andere Landschaft der Erde». In ihre weiten, übersichtlichen Räume schweifen paradoxerweise manche unserer Träume und Sehnsüchte. Ob das eine Vorahnung des künftigen Entwicklungsweges ist?
Wald und Wüste sind Gegensätze. Es mag scheinen, dass hier ein Lebensraum einem Nicht-Lebensraum gegenübergestellt werden soll. Wenn A. Gabriel schreibt, am Rande der Wüste stehe man «am Saum einer ganz und gar anorganischen Welt, die aus dem Kreislauf des Lebens ausgeschieden» sei, so kommt darin eine weitverbreitete Vorstellung zum Ausdruck. Demnach hätte der Biologe in der Wüste nichts zu suchen. In dieser Schrift soll gezeigt werden, dass er auch dort einem Reichtum an interessantestem Leben begegnen kann.
Die beiden Vergleichspartner Wüste und Wald sind keineswegs von so ungleichem Gewicht, wie man vorweg vermuten könnte.
Dieses Neujahrsblatt enthält eine zwanglose Folge kurzer Essays. Es soll kein Lehrbuch der Ökologie sein, aber dazu anregen, bestimmten Erscheinungen und Zusammenhängen in der Natur Aufmerksamkeit zu schenken und dazu die zitierte Fachliteratur zu Rate zu ziehen. Der Leser wird es dem Verfasser nachsehen, wenn er sich nicht um Vollständigkeit bemüht hat, sondern nur darüber berichtet, was ihm persönlich beim Studium dieser faszinierenden Lebensräume zum besonderen Erlebnis oder zur bedeutenden Einsicht geworden ist.
Die Urwälder und Urwüsten werden heute in zunehmender Geschwindigkeit zerstört. Niemand kann davor die Augen verschliessen. Darüber besteht reichlich Literatur, so dass die Alarmrufe nicht explizit wiederholt werden müssen. Auch wird vom Leser angenommen, dass er keine Belehrungen über die mannigfaltigen Wohlfahrtswirkungen des Waldes benötigt. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der biologischen Qualität der Urvegetation. Es soll Aufmerksamkeit, Verständnis und vor allem Dankbarkeit für die grossartige und reiche Welt aussermenschlichen Lebens, an der wir Anteil nehmen dürfen, erregt werden. Und: Nur was man versteht, kann man wirkungsvoll schützen.

Ein herausgegriffener Kommentar im Kapitel: Wüsten, einfache Lebensräume?
"Nach 5 Jahren und über 2000 Beobachtungsnächten wurde die Rate der Neufunde (der Beutetiere einer Skorpionart) noch keineswegs geringer. Um über die Ernährung auch nur der häufigsten Tierarten Bescheid geben zu können, wäre ein astronomischer Arbeitsaufwand vonnöten. Die Beziehungsnetze unter den Wüstenorganismen sind von undurchschaubarer Mannigfaltigkeit. Garry A.Pollis (1991) - von dem die zitierten Daten stammen- findet, es sei eine Untertreibung, das Wort Komplexität dafür zu verwenden."
Dieses Neujahrsblatt ist seit längerem Vergriffen. Daher wurde es mit Hilfe von Peter Peisl überarbeitet und als PDF-File freigegeben.
Neuj1994.pdf 1.1MB, Wald und Wüste von Peter Peisl

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