Der «Wolkenwald von Rancho Grande» im Henri-Pittier-Nationalpark in der Küstenkordillere Venezuelas wird von Volkmar Vareschi (1980) als «einer der üppigsten der Welt» beschrieben, als das «Optimum der Vegetation unseres Planeten». Das stabile Ökosystem beherbergt etwa 1100 Arten von Gefässpflanzen und ist stark gemischt: Auf einem Areal von 1,5 Hektaren wurden 750 Bäume von über 10 cm Stammdurchmesser gezählt, die 190 verschiedenen Arten angehören. 23. Juli 1991 |
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 Vergleichende Charakterisierung 2.1 Definitionen 2.2 Organische Masse, Stoffumsätze, Böden . . 2.3 An den Grenzen der Existenz 2.3 Sind Wälder und Wüsten Systeme? 3 Wüsten, einfache Lebensräume?3.1 Begegnung 3.2 Artenarme und artenreiche Wüsten 3.3 Die blühende Wüste 3.4 Wasser 3.5 Bäume in der Wüste 3.6 Sukkulenten 3.7 Tierleben 3.8 Fische in der Wüste 3.9 Leben im losen Sand 3.10 Mikroorganismen und Flechten 4 Wald, die Vegetation des Überflusses? 4.1 Das Wechselspiel der begrenzenden Faktoren 4.2 Das biologische Kapital 4.3 Das Prinzip Dominanz 4.4 Der Artenreichtum der Tropenwälder 4.5 Das Bioklima 4.6 Strukturen 4.7 Das Überwinden von Distanzen 4.8 Das Blühen im Wald 4.9 Das Vermeiden und Abwehren von Feinden 4.10 Wälder als Orte der Primatenevolution 5 Überblick 6 Literatur |
1 Einleitung
Von den urtümlichen Lebensräumen sind Wälder
und Wüsten - neben den arktischen und alpinen Zonen und den Meeren
- die letzten verbliebenen Gebiete, die grössere Flächen einnehmen.
In ihnen können wir noch Natur erleben, wie sie sich über unvorstellbar
lange Zeiträume entwickelt hat, und sie wissenschaftlich erforschen.
Urwälder und Urwüsten sind also Gegenstände dieses Neujahrsblattes,
nicht die vielen vom Menschen geschaffenen sekundären Wüsten
und nicht die gepflegten Forste. Wir wollen verstehen lernen, wie unbeeinflusste
Vegetation in Raum und Zeit strukturiert ist, wie sie eine Fülle angepassten,
vielseitig verknüpften Lebens beherbergen kann.
Vom Menschen und seinem Wirken in der Natur soll also
nicht direkt die Rede sein. Die Texte wollen jedoch Anlass sein zur Besinnung
auf unsere Herkunft und unsere heutige Beziehung zur Natur. In der Urvegetation
können wir uns ein Bild davon machen, welcher Macht und Unerbittlichkeit
unsere frühen Vorfahren gegenüberstanden, welchen Herausforderungen
ihrer geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte sie begegneten.
«Wald» und «Wüste» sind auch für uns
heutige Menschen noch emotionell besetzte Wörter. Dass sie uns nicht
gleichgültig lassen, zeigt schon das reiche Angebot der Buchhandlungen
zu diesen Themen. Dabei liegen Wüsten und Wälder ausserhalb unseres
eigentlichen Lebensbereiches: Die Menschheit hat den Raum zwischen ihnen
besiedelt oder sich ihn dort durch Bewässern bzw. Roden geschaffen.
Beiden Lebensräumen haftet etwas Unheimliches an, jedem in seiner
eigenen Weise. Märchen und Sagen geben darüber Aufschluss. Fremd
sind sie uns beide nicht, denn wir haben eh und je in ihrer Nachbarschaft
gelebt.
Unser Verhältnis zum Wald hat zwei Aspekte: Einerseits
machen wir ihn zum Objekt des Wirtschaftens, Forschens und Betreuens im
Bewusstsein der Macht über die Natur und unserer Verantwortung für
sie. Anderseits neigen wir dazu, uns der Urnatur in romantischer Überhöhung
zu erinnern (s. H. Voegeli, 1988). Wir betreten und nutzen den Wald, und
dies tun wir mit leisen Gefühlen des Triumphes. Viele von uns empfinden
eben tief in sich die Wildnis immer noch als ihren Urfeind.
Der Wüste gegenüber scheinen unsere Gefühle
andere zu sein: Der Geograph Alfons Gabriel (1978) beschreibt die «tiefe
Erschütterung des Besuchers» ob den «Schrecken und den
Herrlichkeiten der Wüste»; sie «packt mehr als jede andere
Landschaft der Erde». In ihre weiten, übersichtlichen Räume
schweifen paradoxerweise manche unserer Träume und Sehnsüchte.
Ob das eine Vorahnung des künftigen Entwicklungsweges ist?
Wald und Wüste sind Gegensätze. Es mag scheinen,
dass hier ein Lebensraum einem Nicht-Lebensraum gegenübergestellt
werden soll. Wenn A. Gabriel schreibt, am Rande der Wüste stehe man
«am Saum einer ganz und gar anorganischen Welt, die aus dem Kreislauf
des Lebens ausgeschieden» sei, so kommt darin eine weitverbreitete
Vorstellung zum Ausdruck. Demnach hätte der Biologe in der Wüste
nichts zu suchen. In dieser Schrift soll gezeigt werden, dass er auch dort
einem Reichtum an interessantestem Leben begegnen kann.
Die beiden Vergleichspartner Wüste und Wald sind
keineswegs von so ungleichem Gewicht, wie man vorweg vermuten könnte.
Dieses Neujahrsblatt enthält eine zwanglose Folge
kurzer Essays. Es soll kein Lehrbuch der Ökologie sein, aber dazu
anregen, bestimmten Erscheinungen und Zusammenhängen in der Natur
Aufmerksamkeit zu schenken und dazu die zitierte Fachliteratur zu Rate
zu ziehen. Der Leser wird es dem Verfasser nachsehen, wenn er sich nicht
um Vollständigkeit bemüht hat, sondern nur darüber berichtet,
was ihm persönlich beim Studium dieser faszinierenden Lebensräume
zum besonderen Erlebnis oder zur bedeutenden Einsicht geworden ist.
Die Urwälder und Urwüsten werden heute in zunehmender
Geschwindigkeit zerstört. Niemand kann davor die Augen verschliessen.
Darüber besteht reichlich Literatur, so dass die Alarmrufe nicht explizit
wiederholt werden müssen. Auch wird vom Leser angenommen, dass er
keine Belehrungen über die mannigfaltigen Wohlfahrtswirkungen des
Waldes benötigt. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der biologischen
Qualität der Urvegetation. Es soll Aufmerksamkeit, Verständnis
und vor allem Dankbarkeit für die grossartige und reiche Welt aussermenschlichen
Lebens, an der wir Anteil nehmen dürfen, erregt werden. Und: Nur was
man versteht, kann man wirkungsvoll schützen.
Ein herausgegriffener Kommentar im Kapitel: Wüsten, einfache
Lebensräume?
"Nach 5 Jahren und über 2000 Beobachtungsnächten
wurde die Rate der Neufunde (der Beutetiere einer
Skorpionart) noch keineswegs geringer. Um über
die Ernährung auch nur der häufigsten Tierarten Bescheid geben
zu können, wäre ein astronomischer Arbeitsaufwand vonnöten.
Die Beziehungsnetze unter den Wüstenorganismen sind von undurchschaubarer
Mannigfaltigkeit. Garry A.Pollis (1991) - von dem die zitierten Daten stammen-
findet, es sei eine Untertreibung, das Wort Komplexität dafür
zu verwenden."
Dieses Neujahrsblatt ist seit längerem Vergriffen. Daher wurde es mit Hilfe von
Peter Peisl überarbeitet und als PDF-File freigegeben.
Neuj1994.pdf 1.1MB, Wald und Wüste von Peter Peisl