Neujahrsblatt; Herausgegeben von der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich; Auf das Jahr 2000;202. Stück
Ausgegeben am 31. Dezember 1999; ISSN 0379-1327
Prof. Dr. med. B. Woggon Neujahrsblatt Depressionen erkennen 
und richtig behandeln

Prof. Dr. Brigitte Woggon

Zeichnungen von
Anna-Regula Hartmann-Allgöwer; ANNA annah@rtmann.ch

Einleitung
In meine Spezialsprechstunde kommen vor allem Patienten, die auf die übliche Behandlung nicht ansprechen. Überwiegend arbeite ich mit Patienten zusammen, die schwer krank sind, viele haben ihre Arbeit und ihre Familie bereits durch die Krankheit verloren, viele haben es nur unter grossem Kraftaufwand bisher geschafft, sich nicht zu suizidieren. Durch die langjährige Erfahrung mit Patienten, deren Depression von den vorbehandelnden Ärzten/Therapeuten als unbehandelbar oder unheilbar eingestuft wurde, ist meine therapeutische Haltung geprägt worden.
Patienten, die an Depressionen oder anderen affektiven Störungen leiden, befinden sich in «berühmter» Gesellschaft: Hiob, Michelangelo, Martin Luther, Ignatius von Loyola, Arthur Schopenhauer, Vivien Leigh, Abraham Lincoln, Theodore Roosevelt, Winston Churchill (Edwards, 1978; Fieve, 1989; van Lieburg, 1989).
Würde man an einem Stichtag alle Menschen auf dieser Welt untersuchen, so würde man feststellen, dass etwa drei bis fünf Prozent an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden (Stichtagsprävalenz). Das Lebenszeitrisiko für die Entwicklung von Depressionen und anderen affektiven Störungen beträgt 25%.
Depressionen sind häufiger geworden oder werden häufiger diagnostiziert (Bland, 1997). Frauen haben mindestens doppelt so häufig Depressionen wie Männer. Heute werden mehr Depressionen bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert, allerdings immer noch zu selten!
Fortsetzung dieses Textes siehe nach dem Inhaltsverzeichnis.

Inhaltsverzeichnis
Einleitung  5
1. TEIL: DEPRESSIONEN ERKENNEN  6
A Symptomatik  7
  1 Antriebshemmung  7
  2 Depressive Verstimmung  8
  3 Denkstörungen  11
  4 Negatives Selbstbild  14
  5 Wahrnehmungsveränderungen  14
  6 Suizidalität  15
  7 Ängste  17
  8 Zwangssymptome  18
  9 Körperliche Symptome  19
 10 Sexualität  22
 11 Äusserliche Veränderungen  22
 12 Wahn und Sinnestäuschungen  22
 13 Schwankungen  24
B Depressionen mit verschiedener Symptomatik  24
C Andere affektive Störungen  25
D Diagnostik  26
E «Depressionen hat doch jeder»  27
F Unterschiede zwischen deprimierten Gesunden und depressiven Patienten  29
2. TEIL: DEPRESSIONEN RICHTIG BEHANDELN  30
A Psychotherapien  31
B Nicht-medikamentöse biologische Therapieverfahren  32
C Antidepressiva  34
 1 Wirkungsmechanismus verschiedener Antidepressiva  35
 2 Wie findet man das richtige Antidepressivum?  36
 3 Wie rasch wirkt die richtige Dosis?  41
 4 Wie stellt man die Wirkung fest?  41
D Gibt es unheilbare Depressionen?  43
 1 Fehler bei der Behandlung mit Antidepressiva  44
 2 Faktoren, die den Behandlungserfolg beeinflussen können  47
 3 Echte Therapieresistenz  49
 4 Behandlungsmöglichkeiten  49
   4.1 Hochdosierte Behandlung mit Antidepressiva  49
   4.2 Infusionstherapie mit Antidepressiva  51
   4.3 Andere Substanzen  51
E Langzeitbehandlung von Depressionen  52
 1 Wann ist eine Langzeitbehandlung indiziert?  53
 2 Welche Möglichkeiten gibt es für die Langzeitbehandlung?  53
 3 Wie beurteilt man den Erfolg der Lithiumprophylaxe?  56
 4 Schwierigkeiten bei der Langzeitbehandlung  57
3. TEIL: AUSBLICK  58
Literatur  59
Adresse der Autorin  61
Adresse der Zeichnerin  61


Depressionen können sehr verschiedene Ursachen haben: schwerwiegende Erlebnisse, körperliche Erkrankungen, Unfälle, Medikamente und Drogen, Wechsel der Jahreszeiten, Schwangerschaft und Geburt, Vererbung.
Depressionen bei körperlichen Erkrankungen werden gern verkannt, weil es ja verständlich ist, dass jemand traurig ist, der körperlich krank ist. Hier wie auch in anderen Situationen (Pubertät, Alter) wird der «Fluch des Verstehens» wirksam: weil man versteht, warum jemand leidet, wird die Depression nicht als Krankheit erkannt und deshalb nicht richtig behandelt.
Es gibt ganz verschiedene Therapieformen, die man zur Behandlung von Depressionen und anderen affektiven Störungen anwenden kann.
Viele Therapeuten kennen nur die Behandlungsmethode, die sie selbst erlernt haben, und wenden diese bei ihren Patienten an, obwohl es andere, für diesen Patienten bessere Möglichkeiten gibt. Das trifft auf medikamentöse und nicht-medikamentöse Behandlungen zu. Es ist wichtig, das ganze Spektrum der vorhandenen Möglichkeiten zu kennen, damit man den einzelnen Patienten sachkundig dahingehend beraten kann, welche Behandlung für ihn geeignet und vielversprechend ist und bei welchem Therapeuten er sie machen kann. Bei der Behandlung affektiver Störungen geht es nicht darum, dass die Patienten an die Therapieverfahren «angepasst» werden, sondern dass man massgeschneidert alle therapeutischen Möglichkeiten einsetzt, die dem Patienten helfen können!
Depressionen kommen bei mehr als der Hälfte der Patienten mehrmals im Leben vor. Es ist sehr wichtig, neue Depressionen zu verhindern, da ihre sozialen Konsequenzen für viele Patienten und ihre Familien von grosser Tragweite sind. 20% der Depressionen dauern länger als zwei Jahre. Bei 20-35% erfolgt zwischen den depressiven Phasen keine Vollremission, sondern es bleiben sozial störende Restsymptome bestehen. Dadurch wird die Prognose der Erkrankung schlechter!
Eine Behandlung nach neuestem Wissensstand bietet sehr viele Möglichkeiten. Setzt man diese patientenzentriert und massgeschneidert ein, so ist es extrem selten, dass eine Depression therapieresistent wird oder bleibt (Woggon, 1999).

1. Teil: Depressionen Erkennen
Es gibt keinen psychologischen oder biologischen Test, mit dem man Depressionen nachweisen kann. Die genaue Beobachtung und Exploration psychopathologischer Symptome ist die Basis der Depressions-Diagnostik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bei keiner psychiatrischen Erkrankung Verhaltensweisen gibt, die prinzipiell neu sind, also nicht auch beim Gesunden vorkommen können! Deshalb ist zusätzlich zur genauen Symptombeschreibung das Ausmass der sozialen Konsequenzen von grösster Relevanz für die Beurteilung, ob ein Symptom oder eine Verhaltensweise krankheitswertig und behandlungsbedürftig ist.  ....

...
Als kleines Textfragment, die Einführung im zweiten Teil zu den Antidepressiva:

C Antidepressiva
Es ist heute nicht mehr nötig, Monate oder Jahre unter den Auswirkungen einer Krankheit zu leiden, die man wirksam und sicher behandeln kann. Wenn man frühzeitig mit der richtigen Behandlung beginnt, lassen sich die sozialen Konsequenzen vermeiden, die viel schlimmer sind, als man früher angenommen hat.
Die 1989 publizierte Untersuchung von Kupfer, Frank und Perel hat ganz deutlich nachweisen können, dass durch rasch einsetzende Behandlung eine deutliche Verkürzung der depressiven Phase möglich ist. Sie haben 45 Patienten, die sie in einer vorangegangenen depressiven Phase mit Tofranil behandelt hatten, in der darauffolgenden Phase gleich nach Auftreten erster depressiver Symptome mit dem gleichen Medikament und in ähnlicher Dosierung behandelt. Diese zweite Phase konnte um vier bis fünf Monate abgekürzt werden, eine sehr deutliche und für die Patienten sicher sehr wichtige Auswirkung des frühen Behandlungsbeginns.
Das Zögern vieler Therapeuten und Ärzte, rechtzeitig oder sogar frühzeitig Depressionen wirksam zu behandeln, führt zu verlängertem Leiden und hohen «Folgekosten». Viele Patienten werden über Jahre in einer leichten Depression «gehalten», weil sich der behandelnde Arzt nicht die Mühe nimmt, das eigentliche Therapieziel mit allen Mitteln zu erreichen. Wie bei anderen Erkrankungen auch, lautet der Behandlungsauftrag nicht «es soll etwas besser gehen», sondern «der Patient soll gesund/symptomfrei werden». Wir wissen heute, dass bei richtigem, das heisst konsequentem Einsatz der zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten dieses Ziel fast immer erreicht werden kann. Der Einsatz ist zum Teil enorm gross, aber er lohnt sich!
 

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